Zwei Sterne einander nah, einander fern verloren und gefangen in dem, was sie verbindet in der Nacht in der erstrahlt, was sonst im Licht erblindet.
Denn ein Stern verloren und gefangen in tiefer Nacht weiß, dass zwischen Nähe und Ferne allein die Dunkelheit regiert. Und wo Nähe flieht weil Angst vor dem Fernsten sich regt da braucht es ein Licht, das verspricht dass in der Nacht keine Drohung liegt.
Doch strahlt ein Stern für sich allein spendet Licht und Mut, wo sonst nur Dunkelheit so findet sein Licht und spendet Trost dem zweiten Stern der nimmermehr verzagt allein in tiefer Nacht nicht vor Nähe, nicht vor Ferne denn ein Stern, der strahlt für sich allein, kann dem anderen nicht verloren gehn.
Und zwei Sterne, einst so fern und einander nun so nah strahlen hell am Firmament denn überwunden ist das Fernste es war die Angst und Nähe bleibt, wo Ferne war.
Und ist Lieben doch kaum mehr
als der Wunsch, das Sehnen,
der Traum,
sich selbst zu finden im Glänzen und Strahlen
und Lächeln des Anderen.
Und einmal erfahren in all seiner Kraft,
seinem unbrechbaren Zauber,
bleibt die Erinnerung an dieses Lächeln
doch kaum mehr
als der Wunsch, das Sehnen,
der Traum
von etwas, das war,
von etwas, das vielleicht hätte sein können;
ein Gefühl, das bleibt,
nicht etwa flieht vor der Gefahr,
weil die Bedeutung von Ewigkeit
im Schein der Hoffnung
den Schmerz verschweigt.
Eines Abends schwimmt der Wal Hoffnung an die Wasseroberfläche.
Ein Freund hat ihm erzählt, dass es heute keine Wolken am Himmel gibt und man die Sterne sehen kann. Manchmal, wenn kein Wind bläst, spiegeln sich die Sterne auch im Meer. Das ist ein besonders schöner Anblick, denn dann besteht die ganze Welt nur aus glitzernden und funkelnden Pünktchen.
Heute bläst kein Wind, und das möchte sich der Wal Hoffnung nicht entgehen lassen.
Er springt vor Freude aus dem Wasser und lässt die Pünktchen in den Wellen lustig tanzen. Gerade dreht er sich auf den Rücken, als er eine Sternschnuppe sieht. Die Sternschnuppe zieht einen langen, hellen Schweif hinter sich her. Und dann fällt sie ins Wasser.
„Das ist gar nicht weit weg von hier“, denkt sich der Wal Hoffnung und macht sich auf den Weg.
Als er den Ort erreicht, an dem die Sternschnuppe ins Meer gefallen sein muss, ist er sehr überrascht. Denn es ist gar keine Sternschnuppe, die da auf dem Wasser treibt, sondern ein kleines Mädchen mit weißen Haaren.
„Wie heißt du?“, fragt sie der Wal Hoffnung, „Und was machst du hier?“
„Mein Name ist Ida“, antwortet das Mädchen, „und ich komme von sehr weit her.“
„Hast du dir wehgetan, als du heruntergefallen bist?“, fragt der Wal Hoffnung besorgt.
„Nein, das Wasser hat mich aufgefangen. Lebst du hier?“, möchte Ida wissen.
„Ja, hier und überall“, sagt der Wal Hoffnung und zeigt mit seiner regenbogenfarbenen Schwanzflosse in alle vier Himmelsrichtungen.
„Dann bist du genau der, den ich gesucht habe“, freut sich Ida. „Ich möchte gerne die schönsten Orte im Meer kennenlernen, damit ich zuhause davon erzählen kann. Möchtest du sie mir zeigen?“
Das möchte der Wal Hoffnung sehr gerne, und so hält sich Ida an ihm fest und gemeinsam tauchen sie in die Tiefen des Meeres.
Sie schwimmen die ganze Nacht hindurch.
Als am Morgen die ersten Sonnenstrahlen das blaue Wasser erhellen, sieht Ida, wo sie der Wal Hoffnung hingebracht hat. Vor ihnen liegt ein altes Segelschiff, das im Sand auf dem Grund des Meeres schläft. Der Wal Hoffnung taucht vorsichtig durch ein großes Loch in der Schiffswand hindurch. Ida muss aufpassen, dass sie sich nicht den Kopf dabei stößt.
Im Inneren des Schiffswracks bekommt Ida große Augen.
„Das glitzert aber toll“, ruft sie begeistert. „So viele bunte Steine und ganze Kisten voll Münzen! Wie schön!“
Der Wal Hoffnung lächelt. Er freut sich, dass Ida der Schatz gefällt, den er vor langer Zeit hier gefunden hat. Schon oft hat er sich gefragt, wie er hierher gekommen ist. Ob er auch vom Himmel gefallen ist, so wie Ida?
„Möchtest du noch mehr sehen?“, fragt er das Mädchen, als sie sich genug umgeschaut hat.
„Ja, das möchte ich sehr gerne. Ich habe noch Zeit.“
Und so hält sich Ida wieder am Wal Hoffnung fest und gemeinsam setzen sie ihre Reise durch das Meer fort.
Dieses Mal schwimmen sie etwas länger. Ganze drei Tage sind sie unterwegs. Zwischendurch muss der Wal Hoffnung immer mal auftauchen, um Luft zu holen. Wenn er dann aus dem Wasser springt und mit seiner Regenbogenflosse auf das Wasser klatscht, muss Ida vor Freude laut lachen.
Danach tauchen sie wieder ab und schwimmen so dicht über den Meeresgrund, dass ihnen das Seegras den Bauch kitzelt. Manchmal treffen sie andere Bewohner des Meeres: Delfine, die viel lachen und noch mehr reden. Oder Krebse, die lustig seitwärts laufen und dabei so laut mit ihren Scheren klappern, dass man kaum versteht, was sie sagen. Oder Fischschwärme, die sich für Ida in immer neuen Figuren anordnen und mit Hunderten Mündern gleichzeitig sprechen. Ida kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Und sie alle wissen von tollen Orten und spannenden Geschichten zu berichten, die sie kennen und erlebt haben. Bald schon ahnt Ida, dass es mehr zu entdecken gibt, als sie sich vorstellen kann.
Der Wal Hoffnung bringt sie an einen Ort, an dem es ganz dunkel ist.
„Ich sehe gar nichts“, wundert sich Ida. „Wo sind wir?“
„Es ist dunkel, weil es Nacht ist. Warte, bis die Sonne aufgeht“, lächelt der Wal Hoffnung.
Während sie warten, schließt Ida die Augen und schläft ein. Sie träumt von den ganzen Wundern, die sie gesehen hat, und auch von denen, die sie noch nicht gesehen hat. Es ist ein schöner Traum. Und als der Wal Hoffnung sie dann vorsichtig weckt, glaubt sie, noch immer zu träumen.
Denn vor ihr erleuchten die Strahlen der Morgensonne eine ganz neue Welt: Der Meeresboden ist bedeckt mit Blumen, Gräsern und Steinen in allen möglichen Farben und Formen. Die Pflanzen wiegen sich alle sanft im Wasser. Hier und da sieht Ida kleine Blubberbläschen aufsteigen. Und immer wieder kommen ebenso bunte und lustig aussehende Meeresbewohner vorbeigeschwommen und winken fröhlich den Besuchern zu. Ida kann sich gar nicht sattsehen.
„Wie schön“, sagt sie mit leuchtenden Augen. „Wer hat das gemacht?“
„Das war schon immer so“, antwortet ihr der Wal Hoffnung. „Es gibt viele Orte wie diesen im Meer, aber hier finde ich es besonders schön. Nirgendwo sonst gibt es so viele Farben und unterschiedliche Freunde zu treffen.“
„Hat der Ort einen Namen?“, fragt Ida.
„Nein, ich weiß es nicht. Wir nennen ihn immer nur das Große Riff“, erklärt ihr der Wal Hoffnung. „Und schau: Mit meiner Regenbogenflosse passe ich hier ganz wunderbar her, findest du nicht?“
„Oh ja, das ist wahr“, stimmt ihm Ida zu. „So hast du immer ein Stück von hier bei dir. Ich wünschte, das hätte ich auch.“
„Möchtest du hier bleiben?“, fragt sie der Wal Hoffnung.
Ida schüttelt zur Antwort mit dem Kopf. „Ich würde gerne hier bleiben. Aber bestimmt gibt es noch so viel mehr zu sehen. Und bald muss ich ja auch schon zurück.“
„Dann habe ich noch eine Idee, was ich dir zeigen möchte“, sagt der Wal Hoffnung. „Halte dich gut fest!“
Nachdem Ida nun schon einige Male den Sonnenaufgang im Meer erlebt hat, möchte sie ihn auch mal unter freiem Himmel sehen. Deswegen macht sich der Wal Hoffnung am nächsten Morgen direkt auf den Weg zur Wasseroberfläche. Gemeinsam beobachten sie, wie die orangefarbene Sonnenscheibe aus dem Meer auftaucht und das Schwarz vom Himmel vertreibt, bis alles erst in Lila, dann in Rot und schließlich in wunderbarem Blau erstrahlt. Dabei schweigen sie, denn sie beide fühlen sich wohl.
Als die Sonne am Himmel steht, schwimmen sie weiter. Doch der Wal Hoffnung beschließt, nicht wieder so tief abzutauchen. Er weiß, dass nicht nur der Sonnenaufgang sehr schön ist, sondern auch der Sonnenuntergang. Und den möchte er Ida auch zeigen. Bis es soweit ist, spielen sie den ganzen Tag über immer wieder das Planschspiel: Der Wal Hoffnung springt aus dem Wasser, breitet für einen kurzen Moment die Flossen aus wie ein Vogel, und dann planschen sie mit großem Getöse zurück ins Wasser. Zwischendurch, um sich auszuruhen, lassen sie sich auch von der Strömung treiben. Ida streichelt dabei mit den Fingerspitzen über die Wasseroberfläche und bewundert die kleinen kristallklaren Wellen, die sie damit verursacht. Sie findet das Meer toll und ist sehr gespannt, wo sie ihr neuer Freund noch hinbringen wird.
Als der Tag zur Neige geht, färbt sich der Himmel wieder Rot. Ida ist überrascht. Sie hatte gedacht, dass das Licht der Sonnenscheibe einfach dunkel werden würde, weil die Nacht ja auch dunkel ist. Doch stattdessen geht der Tag mit einem wunderschönen Farbenspiel zu Ende. Die Sonne zaubert goldene und orangene und gelbe und rosarote Schatten auf die Wolken. Alles funkelt und schimmert so wie die Edelsteine in der Schatzkiste, die sie am ersten Tag besucht haben.
Fast schon ist sie ein bisschen traurig, als die Nacht hereinbricht.
„Wir haben noch ein weites Stück Weg vor uns“, tröstet sie der Wal Hoffnung. „Am besten schläfst du jetzt und ruhst dich aus. Im Traum siehst du vielleicht all die schönen Farben noch einmal.“
„Das ist eine gute Idee“, findet Ida. „Ich freue mich auf morgen.“
„Ich mich auch“, sagt der Wal Hoffnung und wünscht ihr eine gute Nacht.
Doch am nächsten Tag gibt es keinen Sonnenaufgang. Stattdessen hängen große, schwere, graue Wolken am Himmel.
„Was ist das?“, fragt Ida. „Das sieht gefährlich aus. Ich habe Angst.“
„Du musst keine Angst haben. Das sind Wolken. Und wenn Wolken aufziehen, dann wird es lustig. Halte dich gut fest!“, ruft der Wal Hoffnung. Und kaum hat sich seine Freundin an ihm festgekrallt, springen und toben sie durch die Wellen, die sich bis zum Himmel auftürmen. Der Wind heult laut auf, doch ihr Lachen ist lauter, und vor Freude vergisst Ida, dass sie Angst hatte.
Am nächsten Tag erreichen sie dann den Ort, den der Wal Hoffnung Ida zeigen wollte. Und wieder glaubt Ida, in einer neuen Welt zu sein.
Am Meeresboden liegen Säulen und Statuen aus weißem Stein. Manche stehen auch noch und tragen andere Säulen. Ein großes Labyrinth breitet sich vor ihnen aus. Die Statuen zeigen Wesen, die sie noch nie zuvor gesehen haben. Manche sehen Ida ganz ähnlich. Hier und da finden der Wal Hoffnung und seine Freundin Schlupflöcher, in die sie hineinschwimmen können. Dort sehen sie noch mehr wundersame Dinge: An den Wänden türmen sich Regale auf, in denen seltsame Rollen liegen. Es gibt Tische mit großen und kleinen Geräten, die merkwürdige Sachen machen, wenn man sie anstupst. Sie finden Schreine, aus denen sie die Gesichter der unterschiedlichsten Wesen anschauen.
„Das ist magisch“, staunt Ida. „Was ist das?“
„Auch das weiß ich nicht“, flüstert der Wal Hoffnung, denn er möchte die Stille nicht mit seiner lauten Stimme stören. „Aber unter den Fischen und Walen erzählt man sich, dass hier eines Tages vor langer Zeit ein Berg Feuer spuckte. Das Feuer kam sogar aus dem Meeresboden. Alle hatten große Angst und versteckten sich. Am nächsten Tag waren diese Dinge wie aus dem Nichts aufgetaucht.“
„Dann ist es wirklich magisch“, stellt Ida fest. Sie flüstert nun auch. „Und wunderschön. Danke, dass du dieses Geheimnis mit mir geteilt hast.“
„Was wirst du jetzt tun?“, fragt sie der Wal Hoffnung.
„Jetzt ist es Zeit, Abschied zu nehmen“, antwortet Ida traurig.
„Das ist schade. Aber ich freue mich, dass wir uns begegnet sind“, meint der Wal Hoffnung. „Los, komm! Ich bringe dich zurück. Halte dich an mir fest!“
Und ein letztes Mal schwimmen sie gemeinsam durch das Meer. Als sie an der Wasseroberfläche ankommen, geht die Sonne gerade unter.
„Sieh nur, es wird Nacht“, sagt der Wal Hoffnung. „Bald funkeln wieder die Sterne am Himmel.“
„Ja, und sie zeigen mir den Weg nach Hause“, freut sich Ida. „Ich werde viel zu erzählen haben. Von den Schätzen und dem Riff, von dem magischen Labyrinth aus weißem Stein, von den vielen Freunden, die wir getroffen haben, den Geschichten, die sie erzählt haben. Von den mächtigen Wellen und dem heulenden Wind, dem Sonnenaufgang und dem Sonnenuntergang und den Farben, in denen der Himmel erstrahlt. Von all dem will ich zuhause erzählen. Und auch von dem Gras, das uns den Bauch gekitzelt hat, den Bergen, die unter Wasser Feuer spucken, den bunten Blumen und Steinen, die wir gesehen haben.“ Dann zeigt Ida auf die Regenbogenflosse. „Und vor allem werde ich von dir erzählen, von dir und deiner bunten Flosse, mit der du immer ein Stück von deiner Heimat bei dir hast.“
Der Wal Hoffnung freut sich sehr über das, was Ida zu ihm sagt. Liebevoll streichelt er mit seiner Regenbogenflosse über Idas Gesicht. Ida muss kichern, als sich plötzlich eine Strähne in ihrem Haar verändert. Gerade eben war sie noch weiß, und nun schimmert sie ebenfalls in allen Farben des Regenbogens.
„Jetzt hast du auch etwas, das dich an hier erinnern wird“, lacht der Wal Hoffnung. Ida nickt eifrig.
„Danke für das Geschenk. Und nun muss ich leider los“, sagt sie, während sie zu den Sternen schaut.
„Lebe wohl, Ida. Aber eine Frage habe ich noch. Was hat dir von all den Wundern am besten gefallen?“, fragt sie der Wal Hoffnung.
Das Mädchen mit den weißen Haaren und der regenbogenfarbenen Strähne überlegt einen Augenblick. Dann antwortet sie: „Gefallen hat mir alles. Aber am meisten die endlose Weite, als wir von einem Geheimnis zum nächsten geschwommen sind. So viel Freiheit, so viel zu entdecken. Es ist eine tolle Welt. Das hat mir am meisten gefallen, denn es hat mich auch ein bisschen an mein Zuhause erinnert.“
Und damit drücken sich der Wal Hoffnung und Ida ein letztes Mal, bevor alle, die in diesem Moment zum Himmel schauen, eine kleine Sternschnuppe über den Himmel ziehen sehen.
Spanien, dieses Land, das sich immer nicht entscheiden kann. Ein europäisches Gesicht mit nordafrikanischen Sommersprossen, wenn man die Architektur so bezeichnen möchte. Damit verbunden: Christentum oder Islam? Katalonien: spanisch oder unabhängig? Karge Berglandschaften oder traumhafte Küstenstrände? Jugendarbeitslosigkeit oder milliardenschwere Fußballclubs? Monarchie oder doch lieber 21. Jahrhundert? Ein Kampf gegen Windmühlen oder ein toter Feldherr auf seinem Ross, das hoch über der Stadt thront und die Truppen zum Sieg anführt?
Mag sein, dass ich weder politisch korrekt argumentiere noch im Stande war, Birnen von Äpfeln zu unterscheiden. Aber das waren nun mal meine Gedanken, während ich an dieser verfluchten Weggabelung hoch oben in den Pyrenäen stand und mich darüber aufregte, dass wer-auch-immer diesen Weg angelegt hatte, es nicht für nötig befunden hatte, seinen weiteren Verlauf zu kennzeichnen.
Und so stand ich hier nun, dachte an Real Madrid und El Cid und maurische Architektur und Puigdemont und den Esel von Sancho Panza, dem treuen Begleiter Don Quijotes, während mich sein Urahn gerade mal eines müden und nur mäßig interessierten Blickes würdigte und in aller Seelenruhe, als gäbe es diese Wegegabelung und mein damit verbundenes Dilemma nicht, weiter das gelbvertrocknete Gras aus dem staubigen Boden zupfte. Und ich stand hier und stand und stand, unfähig mich zu entscheiden, welche der beiden Wegoptionen ich als die meine erwählen sollte. Ich, der jeden Tag gutes Geld mit sehr guten Entscheidungen verdient. Phänomenal.
Dazu muss einiges gesagt werden. Es war ein Sonntag, der letzte Tag meines Urlaubs. Ich war allein unterwegs, sofern man die zehn Kilo Gepäck auf meinem Rücken nicht als vollwertige Begleitung bezeichnen wollte. So oft wie ich meinen Rucksack jedoch auf den laut GPS-Tracker vierzehnkommadreivier Kilometern (inklusive fünfhundertfünfundfünfzig Höhenmetern – kein Witz, und ich hielt diese Zahl im ersten Moment auch noch für ein besonders gutes Zeichen; vielleicht sogar ein Omen!) hierauf verflucht hatte, mochte man meinen, dass ich mich sicherlich nicht in bester, aber immerhin in Gesellschaft bewegen würde. Dem war aber nicht so. Den ganzen verfluchten Weg hierauf war ich alleine unterwegs, und nun stand ich hier, und wusste nicht weiter. Ich wusste es wirklich nicht.
Das Problem war Folgendes. Natürlich hätte ich mich einfach für eine der beiden Richtungen entscheiden können. Und natürlich hätte ich auch einfach umkehren können. Aber Umzukehren war keine Option. Das wäre das Eingeständnis einer Niederlage gewesen, und das kam ebensowenig in Frage wie die Tatsache, dass ich mich damit um das Highlight meiner Reise, der Wanderung zum Pilo del Norte, einem hochgelegenen Aussichtspunkt mit fantastischem Panoramablick über Nordspanien und Südfrankreich, gebracht hätte. Ich hatte mir diese Wanderung bewusst bis zum Schluss aufgehoben, denn das Beste – ja, und so weiter. Vielleicht habe ich auch ein wenig Wetterpoker gespielt; in den vergangenen zwei Wochen hatte ich jeden Tag vier verschiedene Onlinewetterportale konsultiert, um ja den besten Tag zu erwischen, an dem die Sicht besonders toll sein würde. Es sollte sich ja auch lohnen. Und ich hatte mir eine neue Kamera gekauft; eine, die mit der Perspektive und den Lichtverhältnissen zurechtkommen und mir ein paar besondere Andenken beschaffen würde.
Und man muss wohl auch dazusagen, dass der Pilo del Norte ein echter Geheimtipp war. Man findet ihn in keinem Reiseführer, die Wege hierher sind auf keiner Karte verzeichnet, und die Einheimischen reden bestenfalls flüsternd davon, damit ja kein Tourist auf die Idee kommt, diesen Ort, der laut Beschreibung mit seiner geovertikalexponierten Lage auch sicherlich eine Anlegestelle für Noahs Arche hätte sein können, zu einer Pilgerstätte zu machen.
Und so schaute mich der Esel an, der seinen Kiefer beinahe wie ein Wiederkäuer kreisen ließ, und ließ mich hier stehen. Otto. Ich nannte ihn Otto. In diesem Moment, und weil er so dämlich aussah mit seinen Kaubewegungen.
Aber seine Augen, die waren irgendwie nicht dämlich. Dann und wann trafen sich unsere Blicke, vornehmlich dann, wenn Otto genug Zellulosereste zwischen den Zähnen zum Zerkauen hatte, und irgendwann ahnte ich, was er mir sagen wollte. Ein Weg, den man in keinem Reiseführer findet. Und auch nicht in irgendeiner Karte. Ein Panorama, das man bei Instagram und Pinterest vergeblich sucht. Oh man. Otto war wohl nicht der einzige Esel hier.
Dann senkte Otto den Kopf wieder und ging sogar ein paar Schritte – nicht zu viele, denn es war fürchterlich heiß hier oben; die Sonne drückte vom Himmel herab, während der trockene Boden die Hitze reflektierte und ich förmlich darauf wartete, den Geruch von schmorenden Gummisohlen zu riechen. Aber nein: Wer war ich, dass ich mich von einem Esel verunsichern ließ? Ich wusste vielleicht nicht, welchen Weg ich nehmen sollte, aber immerhin wusste ich, dass ich das nicht wusste – während Otto nur kaute und mir weise Blicke zuwarf und gar nichts wusste. Außer vielleicht, dass er das viele trockene Zeug wohl irgendwann mit etwas Wasser herunterspülen sollte.
Ich versuchte es mit Logik. Ich befand mich auf einem kleinen Kamm; der eine Weg führte scheinbar zunächst wieder ein Stück bergab, allerdings konnte ich in einiger Entfernung erahnen, wie er sich am nächsten Hang wieder nach oben schlängelte. Der andere Weg führte direkt auf dem Kamm entlang, schien vor dem nächsten Hang jedoch abzubiegen. Wohin, das konnte ich nicht sehen. Beide Wege schienen gleichermaßen gut geeignet, zu einem tollen Aussichtspunkt zu führen – wenngleich ich noch nicht abschätzen konnte, wo der überhaupt liegen würde.
Um auf mein Problem zurückzukommen: Natürlich hätte ich einfach einen Weg nehmen und dann schauen können, wo ich herauskam. Das hatte ich ja bereits erwähnt. Aber ich ahnte, dass meine Kräfte schwanden. Mein Wasservorrat neigte sich dem Ende zu und meine Oberschenkel brannten wie Feuer. Ich hatte meine gesamte Campingausrüstung dabei, denn ich wollte die Nacht am Pilo del Norte verbringen. Meine Kamera sollte laut Produktblatt auch tolle Nachtaufnahmen machen können. Und wenn ich einmal an diesem mystischen Ort war, dann gleich das ganze Programm.
Otto kaute weiter, warf mir Blicke zu und schüttelte mit dem Kopf.
Ob er wusste, wo es hier Wasser gab? Irgendwo musste er doch auch etwas saufen. Jedenfalls war ich mir sicher, dass selbst wenn ich einen Weg einfach gehen würde, ich niemals weit genug kommen würde, um mit Sicherheit sagen zu können, ob ich richtig war, bevor ein Umkehren sinnlos wurde. Oder mit anderen Worten: Wenn ich mich für einen Weg entschied, musste ich ihn auch bis zum Ende gehen. Denn erst da würde ich erkennen, ob ich richtig war. Und so wie ich die Lage einschätzte, wäre das viel zu weit, um danach nochmal den anderen Weg zu versuchen.
Tja, Pattsituation. Mir graute davor, die falsche Entscheidung zu treffen. Und mir war heiß.
Irgendwann stellte ich den Rucksack ab und setzte mich in den Schatten. Otto sah zu mir herüber, schüttelte ein paar Fliegen ab, kaute, schaute, kaute, schaute. Es hatte beinahe etwas Hypnotisches. Aber ich konnte mich trotzdem nicht entscheiden.
Vor meinem inneren Auge sah ich dieses wundervolle Panorama, das ich nun wahrscheinlich nicht erblicken würde. Je länger ich hier saß, umso stärker wurde die Gewissheit, dass ich mich nicht würde entscheiden können und mich wohl bald auf den Rückweg machen würde. Lieber so, als zu riskieren, den falschen Weg zu gehen. Das würde ich nicht verkraften können. Ich kannte mich. Bestimmt übersah ich etwas, oder würde zumindest denken, dass ich hier etwas übersehen hatte, und das würde mich bis ins Grab quälen. Nachts würde ich schweißgebadet aufschrecken, weil ich von dieser Gabelung träumte; diese Bilder brannten sich schon jetzt in mein Hirn. Der dünne Trampelpfad, den ich heraufgekommen war, die drei knorrigen, halbverdorrten Bäumchen, die mühselig etwas Schatten spendeten, und dann dieser Felsbrocken, an dem sich der Weg teilte.
Und Otto. Otto, der Esel, der Nachfahre des Esels von Sancho Panza – hatte der eigentlich auch einen eigenen Namen?
Ich weiß nicht, wie lange ich hier stand – oder dann saß. Es könnten Stunden gewesen sein. Jedenfalls brachte ich es dann doch zustande, eine Entscheidung zu fällen – und zwar die einzige, die vernünftig war: Ich hatte kein Wasser, jede Faser meines Körpers schrie vor Schmerzen, mir war heiß, mein Kreislauf am Anschlag, und ich wusste nichts, außer dass es vernünftig war, umzukehren. Und so stand ich stöhnend auf, verdrängte die aufkommenden Gedanken an die Niederlage, die ich mir eingestehen musste, und wollte gerade zu meinem Rucksack greifen, als mir ein Gedanke kam.
Otto mochte nur ein Esel sein, und sein Kauen hatte mir genauso viel gebracht wie seine nicht vorhandene Fähigkeit, sein wahrscheinlich ebenso nicht vorhandenes Wissen über die Wege mit mir zu teilen. Doch ich musste zugeben, dass seine Anwesenheit etwas Tröstliches für mich hatte. Und so gebührte es sich, dass ich mich wenigstens von ihm verabschiedete.
Vorsichtig ging ich auf den Esel zu, der mich zuerst mit einer seltsamen Mischung aus Belustigung und Erleichterung anzuschauen schien, bevor er weiter (in sich hinein grinsend, wie mir schien) Gras zupfte und kaute. Ich achtete darauf, mich ihm von vorne zu nähern. Nicht, dass Otto den Eindruck machte, plötzlich wie wild auszutreten. Knochen waren so schnell gebrochen, und das konnte ich hier oben nun wirklich nicht gebrauchen. Vielleicht war er ja ebenso unentschlossen wie ich und seine wilde Seite wartete nur darauf, herauszubrechen. Lieber kein Risiko eingehen. Und so ging ich mit vorgestreckter Hand langsam auf ihn zu, bot sie ihm an, damit er daran riechen konnte, und begann dann, als er keine Einwände kundtat, seinen Kopf und seinen Hals zu streicheln. Sein Fell war ebenso staubig wie der Boden, auf dem wir standen, und meine Bewegungen wirbelten kleine Wölkchen auf. Auch stieg mir sein Geruch in die Nase; er roch nicht gut, wie ein Esel eben, aber immerhin noch besser als ich (auch ohne den metaphorischen Gestand der Niederlage). Otto schienen die Streicheleinheiten zu gefallen, zumindest redete ich mir das ein, um wenigstens einen kleinen Moment der Genugtuung zu behalten. Und während ich ihn streichelte, merkte ich, wie ich mich entspannte und den Blick wandern ließ. Denn wo ich in den letzten Stunden nur die Wegegabelung und die davon abgehenden Wege entlang des vor mir liegenden Kamms und des kleinen Hangs dahinter gesehen hatte, bemerkte ich nun, dass es links und rechts des Kamms nichts gab, was den Ausblick auf das, was dahinter lag, verstellen konnte. Und dahinter lag: Nichts.
Nichts.
Außer Nordspanien und Südfrankreich.
Dieser Ort mit seinen drei Bäumen und dem Stein und dem Esel hatte etwas Magisches. Ich verstand es in dem Moment, als sich mein Blick für das Panorama öffnete. Nicht nur hatte er im richtigen Moment meine pathologische Entscheidungssucht betäubt, sodass ich hier verharrte und nicht wild dem weiteren Weg hinterherjagte, wodurch ich nie im Leben den Ausblick zu beiden Seiten des Kamms entdeckt hätte. Nein, er hatte mich auch die Vorräte vergessen lassen, die ich für die Nacht eingepackt hatte. Ebenso die Tatsache, dass es ein Samstag war, kein Sonntag. Ich hätte genug Zeit gehabt.
Aber vor allem hat er mich eines gelehrt: Ein Mann mag viel wissen, und ein Esel wenig. Aber ein Mann und ein Esel wissen am Ende doch mehr als ein Mann allein. Und Otto hatte die ganze Zeit gewusst, dass das Gras am Pilo del Norte zwar trocken war, die Aussicht aber phänomenal.
“Letzte Nacht hatte ich einen Traum”, begann er zu erzählen. “Einen komischen Traum. Möchtest du ihn hören?” “Shoot!”, antwortete sie, sah ihn von der Seite an und lächelte erwartungsvoll, wie sie es immer tat. “Er war aber wirklich eigenartig. Ich kann mich gar nicht mehr an alles erinnern. Nur so grob.” “Gut, dann nicht. Ich genieße sowieso viel lieber die Aussicht hier.” “Ernsthaft?” “Klar!” “Okay.” Bemüht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, ließ er den Blick über die Landschaft schweifen. Sie saßen auf einem Felsen hoch oberhalb eines Fjordes, in ihrem Rücken die Ausläufer eines Gletschers, während sich vor ihren Augen ein langes, immer weiter werdendes Tal bis hinunter zum Wasser erstreckte. Es war ein majestätischer Anblick; das dunkelgraue Wasser des Fjordes, der im Schatten grauer, steiler Felswände lag, sodass ihn das strahlende Sonnenlicht kaum erreichte, die farbenfrohen Wälder in der Senke, die in allen Tönen von Grün, Gelb, Orange bis zu Rot leuchteten, das dunkle Blau der Seen, die auf halber Höhe zwischen Gletscher und Fjord das kalte Wasser sammelten, der mit wenigen weißen Wolken verzierte, strahlend blaue Himmel als Dach über der Welt, auf die sie meinten, von ihrem Felsen aus herabblicken zu können. Nein, wenngleich er wusste, dass sie diesen grandiosen Ausblick nie ihm vorziehen würde, so hätte er es ihr auch nicht verübeln können, wenn dem so gewesen wäre. “Na los, nun erzähl schon”, lachte sie, als hätte sie seine Gedanken erraten. Wahrscheinlich hatte sie das sogar. “Erzähl mir von deinen Träumen.” “Am Ende war es gar nicht so spektakulär”, sagte er kleinlaut, und bereute es im gleichen Moment, als sie spielerisch mit den Augen rollte. Entschuldigend zog er eine Grimasse. “Also pass auf. Ich war irgendwie in einer Höhle, einer dunklen Höhle mit Wänden aus kaltem, dunklem Stein.” “Ja, das haben Höhlen manchmal so an sich”, neckte sie ihn. “Du hast Recht. Unspektakulär. Aber danke für den Versuch.” “Ich war allein in der Höhle, glaube ich”, fuhr er unbeirrt fort. “Aber ich hatte keine Angst oder irgendwas. Ich stand einfach nur da und es war dunkel.” “Wie bist du denn da hineingekommen?” “Das weiß ich nicht. Es gab auch keinen Ausgang oder Weg. Ich kann mich zumindest an nichts dergleichen erinnern. Jedenfalls: Während ich also in der Höhle stehe und die Wände abtaste, fangen sie plötzlich an zu funkeln. So richtig wie Sterne, immer und immer mehr. Bis am Ende die ganze Höhle im Sternenlicht erstrahlte. Also, erstrahlte – du weißt schon, wie ich das meine, oder?” “Ja, ich denke schon. Weiter.” “Naja, also stand ich da mitten in dieser unfassbar grandiosen Sternenwelt, mit Sternenbildern, die es sonst nirgendwo gibt und habe mich einfach nur glücklich und friedlich und zuhause gefühlt und plötzlich erkenne ich, wo ich bin. Mit einem Mal weiß ich, was ich da sehe.” “Jetzt kommt’s”, flüsterte sie leise. “Deine Augen. Diese Sterne inmitten der Dunkelheit, das sind deine Augen. Irgendwie ist mir das im Traum schlagartig bewusst geworden. Und dann bin ich aufgewacht und war einfach nur happy, dass du neben mir lagst.” “Du spinnst”, lachte sie laut. “So ein Blödsinn!” “Hä, was? Doch, wirklich! Das habe ich geträumt.” “Na klar”, zwinkerte sie. Er sah ihr tief in die Augen und nahm ihre Hand. Allen Spotts zum Trotz erkannte er, dass sie sich über die kleine Geschichte freute. Komplimente hatte sie noch nie annehmen können, aber das war eben ihre Art. So wie es seine war, ihr dennoch bei jeder Gelegenheit zu verstehen zu geben, was er für sie empfand. Sie erwiderte seinen Blick eine Weile lang, drückte ihm dann plötzlich einen Kuss auf die Wange, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und drehte ihre Hand so, dass seine nicht mehr nur auf ihrer lag, sondern sie ihre Finger ineinander verschränken konnten. “Und was sagt uns dieser Traum jetzt?”, fragte sie. “Dass du in meinen Glasaugen gefangen bist, keine Ahnung hast, wie du hineingekommen bist, bei mir permanent die Lampen aus sind und ich kalt wie Stein bin?” “Ja, keine Ahnung”, meinte er. “Ist auch nicht so wichtig. Es war halt nur ein Traum. Wenn auch ein schöner.” “Da, schau”, sagte sie plötzlich und deutete mit dem ausgestreckten Finger auf das Tal vor ihnen. “Ein Adler!” “Tatsächlich! Oh, wie großartig!” Sein Herz machte einen kleinen Sprung und mit großen Augen verfolgte er die Kreise, die der Vogel zog. “Der hat’s gut.” “Hm, ja”, antwortete sie. “Muss schön sein, so über der Welt zu schweben. Gerade bei diesem Wetter. Es ist ja so schon toll, auch ohne Fliegen zu können.” “Weißt du, woran ich gerade denken muss?” “Harry Potter?” “Ja”, antwortete er. “Ja. Ich auch.” “Das war eines unserer ersten Gespräche, oder?” “Ich glaube schon. Ich habe dich gefragt, was dein Patronus-Zauber wäre.” “Und ich habe dich raten lassen und du hast es sofort getroffen.” “Ja, irgendwie so. Das ist schon Jahre her, oder? Das war aber auch einfach.” Sie räkelte sich, und er hatte kurz Angst, dass sie ihren Kopf von seiner Schulter nehmen würde. Doch stattdessen rutschte sie noch etwas näher an ihn heran und umklammerte seinen Arm. “Ja, kann sein”, sagte er. “Und bei dir musste ich ganz schön lange überlegen, was passen würde. Am Ende war es irgendein Fabelwesen.” “Mhm”, machte sie, hob den Kopf, strahlte ihn an, biss sich auf die Unterlippe und suchte dann wieder den Adler. “Und, was denkst du jetzt?” “Ich denke, dass ich noch immer nicht wüsste, welches Tier dein Patronus wäre. Aus den gleichen Gründen, wie damals. Es gibt zu viele, die etwas Tolles haben, aber keines, das dir gerecht wird.” “Oh, ich wüsste mittlerweile eines, und das ist kein Fabelwesen”, entgegnete sie. “Aber ich meinte das anders. Ich meinte: Ist der Adler immer noch dein Patronus?” Normalerweise hätte er jetzt sofort mit Ja geantwortet, so wie er es in den letzten Jahren immer gemacht hatte, wenn ein solches Thema aufgekommen war. Doch er zögerte. Eine Weile beobachtete er still den Adler, während er über die Frage nachdachte. All das, was er mit einem Adler verband, was ihn so an ihm faszinierte, was ihn inspirierte, das hatte noch immer Bestand. Die Freiheit, für die er stand, die Erhabenheit, mit der er durch die Luft glitt, Ergebenheit und Treue, der Blick fürs Wesentliche und scharfe Krallen, imstande, sich zu wehren und für die seinen zu sorgen, der Hauch von etwas Mythischem, der ihn umgab. Doch in diesem Moment, während er ihren Kopf an seiner Schulter spürte, mit dem Wissen um das, was sie miteinander und aneinander hatten, rückte das alles in den Hintergrund. “Nein”, sagte er schließlich. “Kein Adler mehr.” “Sondern?” “Ein Wolf vielleicht. Ein ganz einfacher, grauer Wolf.” Ja, der Wolf passte gut. Ein Herdentier und doch ein Einzelgänger, gefährlich, wenn er es sein musste, ohne eine Bedrohung darzustellen, ein Tier aus der Wildnis, dessen Nachfahren zum besten Freund des Menschen geworden waren, und um den sich nicht weniger Geschichten rankten als um den Adler. “Gut”, meinte sie. “Du klingst nicht sonderlich überrascht”, sagte er zu ihr. “Nein”, antwortete sie und löste sich aus ihrer Umarmung. “Ich weiß es schon lange.” “Wie meinst du das? Woher?” “Es ist kein Wunder, dass der Adler nicht mehr dein Patronus ist.” “Nein?” “Nein.” Sie küsste ihn. “Denn dein Adler beschützt ja jetzt mich.”
Hansen erzählt die buchstäblich unglaubliche Reise von Björn Bosison, der es vom ungeliebten Sohn eines Bauern bis zum Berater und Geschichtenerzähler zweier Dänenkönige bringt. Eingebettet ist diese Odyssee in eine liebevolle Schilderung der Herausforderungen im Leben eines Wikingers – seien plündernde Seeräuber der Ursprung, grünäugige Hexen, Rattenplagen, eitle Könige oder keifende Frauen.
Hansen bedient sich mitunter antiquiriert anmutender Worte und Redewendungen, die sich, hat man sich einmal an sie gewöhnt, vortrefflich in das mittelalterliche Gesamtbild einfügen. Die Verwendung indirekter Rede, beispielsweise um die atemlose, umständliche, katzbuckelnde Überbringung von Neuigkeiten eines windigen Händlers an seinen König abzuhandeln, passt gleichermaßen zum handlungsfokussierten Erzählstil wie es auch dazu beiträgt, den Figuren ungewöhnlich scharfe Konturen zu verleihen.
Die Figuren sind in ihrer prägenden Charakteristik fast schon comichaft überzeichnet. Dennoch verliert sich Hansen nicht in zu vielen Einzelheiten, sodass viel Bildhaftes der Fantasie des Lesers überlassen bleibt.
Die detailreichen Schilderungen spart er sich indessen für die Beschreibung der nordischen Küsten, ihrer Flora und Fauna und unterschiedlichen Bewohner und dem Wetter samt seiner betörenden wie bedrohlichen Schönheit auf. Es sind Momente der Ruhe in einem ansonsten geradlinig und ohne künstliche Pausen erzählten Abenteuer, das mit einer reichhaltigen Mischung aus Historischem, Mystischem und Fantastischem aufwartet und überrascht.
Bemerkenswert an dieser Stelle ist auch, mit welcher erzählerischen Leichtigkeit, fast schon Unbekümmertheit, Hansen über grausamste Verbrechen hinweggeht. Sie sind anschaulich genug, um Bilder entstehen zu lassen, dabei aber auch frei von jeglicher moralischer Wertung, sodass ihr Geschehen einfach als gegeben hingenommen wird und jede weitere Deutung dem Leser überlassen bleibt. Dies formuliere ich als Ausdruck einer befreienden Erzählweise, da sie die Geschichte vom Anspruch, dem Leser eine Moralvorstellung vermitteln zu wollen, entbindet.
Kurz kam ich auf den Gedanken, die realen Hintergründe von Harald Blauzahn, Sven Gabelbart, Björn Bosison und Vigdis der Meergöttin zu recherchieren, doch kam ich schnell wieder davon ab, als ich erkannte, dass mir ein solches Wissen in jeglicher Form den Nachgeschmack einer gut erzählten Geschichte verbittert hätte.
Eigentlich hatte ich das Buch bereits nach 30 Seiten wieder weglegen wollen, da Erzählstil und einige grammatikalischen Auffälligkeiten bei der Verwendung von Zeitformen meinen Lesefluss hemmten. Wenige Seiten später fiel es mir indessen schwer, mich überhaupt noch von dem Buch zu trennen.
Auf der Suche nach einem Buch, das mich in eine andere Welt entführt, sprachlich wie inhaltlich anzusprechen und mitzureißen vermag und dabei den alleinigen Anspruch hat, eine gute Geschichte zu erzählen, bin ich bei Hansens “Die Männer vom Meer” fündig geworden. Solche Bücher gibt es vermeintlich in unüberschaubarer Anzahl – allein sie zu finden, ist gar nicht so einfach.
Diese Rezension entstand wenige Augenblicke, nachdem ich das Buch (ich las die letzten 300 Seiten am Stück) zu Ende gelesen hatte.
Wenn Hoffnung sich aus einem schwarzen Loch hervorkämpft, wie eine kleine Blume aus dem tiefgefrorenen Frühlingsboden, wenn sie schmutzigen Schnee und Kälte beiseite schiebt um Licht zu riechen, sich zu wärmen an der Erwartung, die Glück verspricht, wenn sie kaltem Wind und eisigem Regen trotzt um das Gefühl zu schützen, es nicht zu verlieren in einer feindlichen Welt, und doch nicht fort kann, nicht umhin kann, an Ort und Stelle zu verharren und zu bangen und zu sehnen, dann, nur dann, grabe sie aus und pflanze sie an einen anderen Ort, denn dort, wird sie nicht mehr glücklich werden.
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