Diese Geschichte entstand aus Ideen des Publikums bei der Lesung im KaffeeSatz Chemnitz am 1. Dezember 2023.
Eine Notiz aus den Unterlagen von Damario Zwiefeder, der in seinen Archiven zahlreiche Berichte über die Facetten des gesellschaftlichen Lebens sammelte.
„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Fürchte mich vor der Wahrheit.“ [gekritzelter Vermerk am Rande der Unterlagen, vermutlich von Damario Zwiefeder persönlich.]
Rys Torbern war ein Holzfäller. Er verstand sein Handwerk, jedoch auf keine Weise, die sonderlich bemerkenswert gewesen wäre. So verhielt es sich auch mit seinem Leben, das er ruhig, unauffällig und zurückgezogen verbrachte. Dass er es dennoch zu einiger regionaler Bekanntheit brachte, liegt in der Natur der Dinge, dass manche Geschichten in Tavernen ihren Ursprung lange überdauern. Ich bekam die Erzählung über sein Schicksal erstmals in Aquistea, nahe Sarushafen, zu Ohren; später auch in Berkâs, Beranfall und sogar Rerusbruqq, von wo aus sich der Bericht bis nach Calea verbreitet haben mag.
Torbern war ein Mann, der keine großen Erwartungen oder Wünsche hegte. Ohne hehres Ziel lebte er von einem Tag in den nächsten und kümmerte sich nur um das, was unmittelbar vor ihm lag. Vergangenes kümmerte ihn ebenso wenig wie das, was die Zukunft bringen mochte. Er war im Herbst seiner von den Ewigen für ihn beschiedenen Tage, als ihn des Nachts ein Traum ereilte. Es war der erste von unzähligen, die folgen sollten, und blieb ihm deswegen in besonderer Erinnerung. In kurzen Worten handelte der Traum davon, dass er nach einem anstrengenden wie ereignisarmen Tag im Wald in sein Dorf zurückkehrte – und es völlig zerstört vorfand. Die Häuser und Hütten standen in Flammen, Mensch und Vieh lagen in des Todes Verrenkungen und grausam zugerichtet allenorts verstreut. Ein einziges Wesen war am Leben: Ein Hahn, der zwischen den toten Leibern umher stolzierte und sich, als er Rys gewahrte, auf einen der Leichenberge setzte und mit seinem Krähen einen neuen Tag verkündete.
Rys wusste noch zu berichten, dass er sich über das Gebahren des Hahnes sehr wunderte, da es nach seiner Rechnung erst Abend sein musste, nicht früher Morgen. Er wollte daher den Hahn auf seinen Irrtum hinweisen. Doch der zeigte sich uneinsichtig und begann, mit Schnabel und Krallen Rys zu traktieren, bis der keinen anderen Ausweg mehr sah, als dem Hahn mit seiner Axt den Kopf vom Hals zu schlagen. Erst da fiel dem Holzfäller auf, dass der Hahn nur ein Auge besaß. Nicht so wie ein Krieger, dem ein Auge fehlte, nachdem er im Kampf verwundet wurde, sondern so, als habe der Hahn nie zwei Augen besessen. Anstatt seitlich am Kopf saß dieses eine Auge mittig über dem Schnabel.
Von diesem Bild erschüttert, war er zitternd und schweißgebadet aufgewacht. Es war das erste Mal, dass er sich vor dem Tod fürchtete. Er flüchtete sich daraufhin in sein Tagwerk, um die Schrecken der Nacht abzuschütteln, doch in der folgenden Nacht ereilte ihn derselbe Traum. So wie in der Nacht darauf und in der darauf und in allen, die folgten. Doch begann sich mit der Zeit der Traum zu verändern; stets nur in Kleinigkeiten, die Rys Torbern erst auffielen, wenn er sich in Erinnerung rief, was die Bilder jener ersten Nacht gewesen waren. So lernte der Hahn nicht nur sprechen, sondern gab sich selbst den Namen Felicitus und sprach Rys mit Xantarion an. Später kam Rys nicht abends ins Dorf zurück, sondern zu einer Zeit, in der die Sonne noch keine langen Schatten warf.
Diese Veränderungen erstreckten sich über mehrere Monde, und mit der Zeit belasteten die Träume Rys so sehr, dass er immer häufiger Zuflucht in der Taverne seines Ortes suchte. Er suchte Zuspruch und Zerstreuung, fand jedoch nur offene, staunende Ohren. Abend um Abend schleppte er sich hilflos und mit bösen Vorahnungen wieder nach Hause, mittlerweile auch sehr empfindsam gegenüber der sich ändernden Gestalt der Bilder, die ihn im Schlaf fanden. Er begann sich zu fragen, welchen Sinn das Leben für ihn noch hatte, wenn es mit solchen Qualen verbunden war.
Und es wurde schlimmer. Eine Zäsur trat ein, als der Hahn aus den Träumen verschwand. Stattdessen führte er nun selbst den Namen Felicitus. Jede Nacht wanderte er zwischen Leichenbergen umher und wartete auf einen neuen Morgen, den er mit seinem Schrei ankündigen konnte. Die Nachbarn berichteten ihm, dass sie ihn jede Nacht schreien hörten, und manches Mal griff man ihn auf, als er orientierungs- und besinnungslos durch den Ort irrte. Man begann, ihn zu meiden und zu fürchten, und Rys konnte es ihnen nicht verdenken. Seine Besuche im Ort wurden seltener, und bald fehlte es ihm auch an Kraft, um mit der Axt in den Wald zu ziehen, um Holz zu schlagen. So kam es, dass er immer öfter taub und zermürbt in seiner Hütte lag und mit offenen Augen die Bilder sah, die sonst der Nacht vorbehalten gewesen waren.
Sie veränderten sich weiter, und Rys kam es so vor, als seien die Unterschiede weniger unterschwellig, sondern zunehmend deutlich. Eines Tages besuchte ihn ein mutiger Nachbar, um nach ihm zu sehen, und ihm beschrieb er, dass mittlerweile er es war, der jede Nacht das Dorf verwüstete und Mensch und Vieh niederstreckte. Und so, wie er im wahren Leben nicht mehr in den Wald ging, um Holzfäller zu sein, so kehrte er auch im Traum nicht aus dem Wald zurück, um sein grausiges Werk zu verrichten, sondern aus einer Taverne. Dort habe er einen klaren Trank probiert, von einem Jungen, der einem jeden erzählte, er sei ein Gott in Kindesgestalt und bringe Frieden für die Welt. Nachdem er einen Schluck davon gekostet hatte, verfiel er in den blutigen Rausch, und Nacht um Nacht, Tag um Tag, Traum um Traum versuche er, Rys, nicht mehr von dem Trank zu kosten. Lieber wolle er sterben, als weiter Tod und Elend über die Welt zu bringen. Doch jedes Mal nahm er einen Schluck von des Jungen Trank, denn der versprach ihm bald, dass er ihm Frieden bringe – wenn er der Welt Frieden gebracht habe.
Der Nachbar, dem Rys Torbern dies erzählte, teilte diesen Bericht mit den anderen im Dorf. Man überlegte, ob man dem armen Mann helfen – oder ihn wenigstens erlösen – konnte. Doch konnte niemand sich überwinden, sich über den Willen der Götter und die Gesetze der Menschen zu erheben.
Und so litt Rys weiter, träumte von Tod und Vernichtung, in deren Mittelpunkt er selbst stand, ein einäugiger Hahn, berauscht durch ein göttliches Gift und zwiespältige Versprechen. Man hörte ihn nun schreien, Tag und Nacht, hörte ihn rufen, weinen, betteln und drohen. Ob er wachte oder träumte, konnte man nicht mehr mit Gewissheit sagen; er selbst wohl am allerwenigsten. Jeder betete, dass die Ewigen ihn bald zu sich holen oder seinen Leib dem Ewigen Reich einverleiben würden. Und Hoffnung kam in ihnen auf, als der alte Holzfäller eines Tages aus seiner Hütte kam, mit wildem, aber klarem Blick sich umsah und den Weg zum Totenacker einschlug. Man folgte ihm in einer schweigenden Prozession, gebannt, was der Mann vorhatte, und auf der Hut, sollten seine Träume wieder von ihm Besitz ergreifen. Doch nichts dergleichen geschah; stattdessen begann er, auf dem Totenacker mit blanken Händen im Boden zu graben. Er tat dies ohne aufzusehen, mit einer Ausdauer, die man seinem ausgemergelten Leib nicht zutrauen mochte. Drei Tage und vier Nächte grub er, und weil das Leben für die anderen weitergehen musste, entschieden sie, eine Wache für Rys abzustellen.
Ihre Wahl fiel auf eine Frau namens Halena, und das war nur logisch. Halena war eine Witwe, deren beste Tage hinter ihr lagen, die den Tod aber noch nicht nahen spürte. In vergangenen Zeiten war sie einst eine Söldnerin gewesen. Dem Waffengang hatte sie zwar abgeschworen, führte ihre Axt jedoch stets bei sich. Aus sentimentalen Gründen, wie sie stets behauptete, nicht aus praktischen. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, über die Toten des Ortes zu wachen, um die Schuld bei den Ewigen zu tilgen, die sie mit ihrem Handwerk auf sich geladen hatte. Besser als sie war niemand geeignet, um auf den grabenden Rys Acht zu geben.
Halena stand im Ruf, eine ehrliche und verlässliche Natur zu sein. Es gibt für mich keinen Anlass, an ihrem Bericht zu zweifeln. Im Bereich des Möglichen liegt, dass ihre Ausführungen mit der Zeit verfälscht wurden, wie es Geschichten, die oft erzählt werden, häufig widerfährt. Doch schwört ein jeder, der diese Geschichte weitergibt, sie einst genau so übernommen zu haben, mitsamt dem Versprechen, sie nicht aus eitlen Gründen auszuschmücken. Mit etwas naivem Vertrauen in die Menschheit nehme ich also an, dass das Folgende tatsächlich so von Halena berichtet wurde: Rys grub ein Loch, das schon bald die deutliche Form eines Grabes annahm. Dabei murmelte er beständig vor sich hin, allein unterbrochen von gelegentlichen Zuckungen, bei denen er den Kopf schieflegte, die Arme anwinkelte und zwischen den anderen Gräbern umherschlich. Ein paar Mal meinte Halena, einen heiseren Schrei aus seiner Kehle vernehmen zu können, und dann wandte sich Rys wieder dem Loch zu.
Es dämmerte der vierte Tag, als er mit seinem Werk zufrieden schien. Eine Woge des Mitgefühls überkam Halena, als sie den armen Mann betrachtete. Er stand mit dem Rücken zu ihr, mit beiden Beinen in seinem Grab, und sie trat bis auf ein paar Schritte an ihn heran. Sie wollte ihm ein paar letzte Worte mitgeben, einen Segen für die Ewigen aussprechen, ihm ein letztes Zeichen von Mitgefühl vermitteln. Da fuhr er plötzlich herum, das Gesicht zu einer furchtbaren Fratze verzerrt, und schrie, er sei Felicitus, und er wäre gekommen um sie, Xanator, zu vernichten. Er stürzte sich auf sie, doch Halena war eine Kriegerin, und noch bevor sie verstand, was geschah, noch bevor sie entscheiden konnte, was zu tun sei, hielt sie ihre Axt in der Hand und schlug der Bestie, die einst Rys Torbern gewesen war, den Kopf vom Hals. Sein Leib fiel rücklings ins Grab, der Kopf gleich daneben. Andere aus dem Dorf eilten herbei, fragten, was geschehen sei, atmeten auf, dass der Schrecken ein Ende hatte, und beschlossen sogleich, den Holzfäller zu bestatten.
Doch als sie nach seinem Haupt griffen, um es zu seinem Leib zu legen, fuhr ihnen der Schrecken in die Glieder. Es hatte nur ein Auge. Nicht wie ein Krieger, dem ein Auge fehlte, nachdem er im Kampf verwundet worden war. Sondern so, als habe Rys nie zwei Augen besessen.
Schnell verschlossen sie das Grab mit Erde und häuften einen Berg schwerer Steine darauf, damit sich die Bestie nie wieder erheben konnte. Es war Halena, die den letzten Stein platzierte. Sie legte ihn gerade ab, als am Horizont die Sonne erschien.
Ein neuer Tag brach an.
Im Dorf krähte ein Hahn.
Und Halena erwachte zitternd und schweißgebadet in ihrer Hütte.