Ein Traum, ein Vogel und ein Zauber

“Letzte Nacht hatte ich einen Traum”, begann er zu erzählen. “Einen komischen Traum. Möchtest du ihn hören?”
“Shoot!”, antwortete sie, sah ihn von der Seite an und lächelte erwartungsvoll, wie sie es immer tat.
“Er war aber wirklich eigenartig. Ich kann mich gar nicht mehr an alles erinnern. Nur so grob.”
“Gut, dann nicht. Ich genieße sowieso viel lieber die Aussicht hier.”
“Ernsthaft?”
“Klar!”
“Okay.” Bemüht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, ließ er den Blick über die Landschaft schweifen. Sie saßen auf einem Felsen hoch oberhalb eines Fjordes, in ihrem Rücken die Ausläufer eines Gletschers, während sich vor ihren Augen ein langes, immer weiter werdendes Tal bis hinunter zum Wasser erstreckte.
Es war ein majestätischer Anblick; das dunkelgraue Wasser des Fjordes, der im Schatten grauer, steiler Felswände lag, sodass ihn das strahlende Sonnenlicht kaum erreichte, die farbenfrohen Wälder in der Senke, die in allen Tönen von Grün, Gelb, Orange bis zu Rot leuchteten, das dunkle Blau der Seen, die auf halber Höhe zwischen Gletscher und Fjord das kalte Wasser sammelten, der mit wenigen weißen Wolken verzierte, strahlend blaue Himmel als Dach über der Welt, auf die sie meinten, von ihrem Felsen aus herabblicken zu können. Nein, wenngleich er wusste, dass sie diesen grandiosen Ausblick nie ihm vorziehen würde, so hätte er es ihr auch nicht verübeln können, wenn dem so gewesen wäre.
“Na los, nun erzähl schon”, lachte sie, als hätte sie seine Gedanken erraten. Wahrscheinlich hatte sie das sogar. “Erzähl mir von deinen Träumen.”
“Am Ende war es gar nicht so spektakulär”, sagte er kleinlaut, und bereute es im gleichen Moment, als sie spielerisch mit den Augen rollte. Entschuldigend zog er eine Grimasse. “Also pass auf. Ich war irgendwie in einer Höhle, einer dunklen Höhle mit Wänden aus kaltem, dunklem Stein.”
“Ja, das haben Höhlen manchmal so an sich”, neckte sie ihn. “Du hast Recht. Unspektakulär. Aber danke für den Versuch.”
“Ich war allein in der Höhle, glaube ich”, fuhr er unbeirrt fort. “Aber ich hatte keine Angst oder irgendwas. Ich stand einfach nur da und es war dunkel.”
“Wie bist du denn da hineingekommen?”
“Das weiß ich nicht. Es gab auch keinen Ausgang oder Weg. Ich kann mich zumindest an nichts dergleichen erinnern. Jedenfalls: Während ich also in der Höhle stehe und die Wände abtaste, fangen sie plötzlich an zu funkeln. So richtig wie Sterne, immer und immer mehr. Bis am Ende die ganze Höhle im Sternenlicht erstrahlte. Also, erstrahlte – du weißt schon, wie ich das meine, oder?”
“Ja, ich denke schon. Weiter.”
“Naja, also stand ich da mitten in dieser unfassbar grandiosen Sternenwelt, mit Sternenbildern, die es sonst nirgendwo gibt und habe mich einfach nur glücklich und friedlich und zuhause gefühlt und plötzlich erkenne ich, wo ich bin. Mit einem Mal weiß ich, was ich da sehe.”
“Jetzt kommt’s”, flüsterte sie leise.
“Deine Augen. Diese Sterne inmitten der Dunkelheit, das sind deine Augen. Irgendwie ist mir das im Traum schlagartig bewusst geworden. Und dann bin ich aufgewacht und war einfach nur happy, dass du neben mir lagst.”
“Du spinnst”, lachte sie laut. “So ein Blödsinn!”
“Hä, was? Doch, wirklich! Das habe ich geträumt.”
“Na klar”, zwinkerte sie. Er sah ihr tief in die Augen und nahm ihre Hand. Allen Spotts zum Trotz erkannte er, dass sie sich über die kleine Geschichte freute. Komplimente hatte sie noch nie annehmen können, aber das war eben ihre Art. So wie es seine war, ihr dennoch bei jeder Gelegenheit zu verstehen zu geben, was er für sie empfand. Sie erwiderte seinen Blick eine Weile lang, drückte ihm dann plötzlich einen Kuss auf die Wange, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und drehte ihre Hand so, dass seine nicht mehr nur auf ihrer lag, sondern sie ihre Finger ineinander verschränken konnten.
“Und was sagt uns dieser Traum jetzt?”, fragte sie. “Dass du in meinen Glasaugen gefangen bist, keine Ahnung hast, wie du hineingekommen bist, bei mir permanent die Lampen aus sind und ich kalt wie Stein bin?”
“Ja, keine Ahnung”, meinte er. “Ist auch nicht so wichtig. Es war halt nur ein Traum. Wenn auch ein schöner.”
“Da, schau”, sagte sie plötzlich und deutete mit dem ausgestreckten Finger auf das Tal vor ihnen. “Ein Adler!”
“Tatsächlich! Oh, wie großartig!” Sein Herz machte einen kleinen Sprung und mit großen Augen verfolgte er die Kreise, die der Vogel zog. “Der hat’s gut.”
“Hm, ja”, antwortete sie. “Muss schön sein, so über der Welt zu schweben. Gerade bei diesem Wetter. Es ist ja so schon toll, auch ohne Fliegen zu können.”
“Weißt du, woran ich gerade denken muss?”
“Harry Potter?”
“Ja”, antwortete er.
“Ja. Ich auch.”
“Das war eines unserer ersten Gespräche, oder?”
“Ich glaube schon. Ich habe dich gefragt, was dein Patronus-Zauber wäre.”
“Und ich habe dich raten lassen und du hast es sofort getroffen.”
“Ja, irgendwie so. Das ist schon Jahre her, oder? Das war aber auch einfach.” Sie räkelte sich, und er hatte kurz Angst, dass sie ihren Kopf von seiner Schulter nehmen würde. Doch stattdessen rutschte sie noch etwas näher an ihn heran und umklammerte seinen Arm.
“Ja, kann sein”, sagte er. “Und bei dir musste ich ganz schön lange überlegen, was passen würde. Am Ende war es irgendein Fabelwesen.”
“Mhm”, machte sie, hob den Kopf, strahlte ihn an, biss sich auf die Unterlippe und suchte dann wieder den Adler. “Und, was denkst du jetzt?”
“Ich denke, dass ich noch immer nicht wüsste, welches Tier dein Patronus wäre. Aus den gleichen Gründen, wie damals. Es gibt zu viele, die etwas Tolles haben, aber keines, das dir gerecht wird.”
“Oh, ich wüsste mittlerweile eines, und das ist kein Fabelwesen”, entgegnete sie. “Aber ich meinte das anders. Ich meinte: Ist der Adler immer noch dein Patronus?”
Normalerweise hätte er jetzt sofort mit Ja geantwortet, so wie er es in den letzten Jahren immer gemacht hatte, wenn ein solches Thema aufgekommen war. Doch er zögerte.
Eine Weile beobachtete er still den Adler, während er über die Frage nachdachte. All das, was er mit einem Adler verband, was ihn so an ihm faszinierte, was ihn inspirierte, das hatte noch immer Bestand. Die Freiheit, für die er stand, die Erhabenheit, mit der er durch die Luft glitt, Ergebenheit und Treue, der Blick fürs Wesentliche und scharfe Krallen, imstande, sich zu wehren und für die seinen zu sorgen, der Hauch von etwas Mythischem, der ihn umgab. Doch in diesem Moment, während er ihren Kopf an seiner Schulter spürte, mit dem Wissen um das, was sie miteinander und aneinander hatten, rückte das alles in den Hintergrund.
“Nein”, sagte er schließlich. “Kein Adler mehr.”
“Sondern?”
“Ein Wolf vielleicht. Ein ganz einfacher, grauer Wolf.” Ja, der Wolf passte gut. Ein Herdentier und doch ein Einzelgänger, gefährlich, wenn er es sein musste, ohne eine Bedrohung darzustellen, ein Tier aus der Wildnis, dessen Nachfahren zum besten Freund des Menschen geworden waren, und um den sich nicht weniger Geschichten rankten als um den Adler.
“Gut”, meinte sie.
“Du klingst nicht sonderlich überrascht”, sagte er zu ihr.
“Nein”, antwortete sie und löste sich aus ihrer Umarmung. “Ich weiß es schon lange.”
“Wie meinst du das? Woher?”
“Es ist kein Wunder, dass der Adler nicht mehr dein Patronus ist.”
“Nein?”
“Nein.” Sie küsste ihn. “Denn dein Adler beschützt ja jetzt mich.”