Der Tag des Esels

Dieser eine Tag, ich werde ihn nie vergessen.

Spanien, dieses Land, das sich immer nicht entscheiden kann. Ein europäisches Gesicht mit nordafrikanischen Sommersprossen, wenn man die Architektur so bezeichnen möchte. Damit verbunden: Christentum oder Islam? Katalonien: spanisch oder unabhängig? Karge Berglandschaften oder traumhafte Küstenstrände? Jugendarbeitslosigkeit oder milliardenschwere Fußballclubs? Monarchie oder doch lieber 21. Jahrhundert? Ein Kampf gegen Windmühlen oder ein toter Feldherr auf seinem Ross, das hoch über der Stadt thront und die Truppen zum Sieg anführt?
Mag sein, dass ich weder politisch korrekt argumentiere noch im Stande war, Birnen von Äpfeln zu unterscheiden. Aber das waren nun mal meine Gedanken, während ich an dieser verfluchten Weggabelung hoch oben in den Pyrenäen stand und mich darüber aufregte, dass wer-auch-immer diesen Weg angelegt hatte, es nicht für nötig befunden hatte, seinen weiteren Verlauf zu kennzeichnen.
Und so stand ich hier nun, dachte an Real Madrid und El Cid und maurische Architektur und Puigdemont und den Esel von Sancho Panza, dem treuen Begleiter Don Quijotes, während mich sein Urahn gerade mal eines müden und nur mäßig interessierten Blickes würdigte und in aller Seelenruhe, als gäbe es diese Wegegabelung und mein damit verbundenes Dilemma nicht, weiter das gelbvertrocknete Gras aus dem staubigen Boden zupfte. Und ich stand hier und stand und stand, unfähig mich zu entscheiden, welche der beiden Wegoptionen ich als die meine erwählen sollte. Ich, der jeden Tag gutes Geld mit sehr guten Entscheidungen verdient. Phänomenal.
Dazu muss einiges gesagt werden. Es war ein Sonntag, der letzte Tag meines Urlaubs. Ich war allein unterwegs, sofern man die zehn Kilo Gepäck auf meinem Rücken nicht als vollwertige Begleitung bezeichnen wollte. So oft wie ich meinen Rucksack jedoch auf den laut GPS-Tracker vierzehnkommadreivier Kilometern (inklusive fünfhundertfünfundfünfzig Höhenmetern – kein Witz, und ich hielt diese Zahl im ersten Moment auch noch für ein besonders gutes Zeichen; vielleicht sogar ein Omen!) hierauf verflucht hatte, mochte man meinen, dass ich mich sicherlich nicht in bester, aber immerhin in Gesellschaft bewegen würde. Dem war aber nicht so. Den ganzen verfluchten Weg hierauf war ich alleine unterwegs, und nun stand ich hier, und wusste nicht weiter. Ich wusste es wirklich nicht.
Das Problem war Folgendes. Natürlich hätte ich mich einfach für eine der beiden Richtungen entscheiden können. Und natürlich hätte ich auch einfach umkehren können. Aber Umzukehren war keine Option. Das wäre das Eingeständnis einer Niederlage gewesen, und das kam ebensowenig in Frage wie die Tatsache, dass ich mich damit um das Highlight meiner Reise, der Wanderung zum Pilo del Norte, einem hochgelegenen Aussichtspunkt mit fantastischem Panoramablick über Nordspanien und Südfrankreich, gebracht hätte. Ich hatte mir diese Wanderung bewusst bis zum Schluss aufgehoben, denn das Beste – ja, und so weiter. Vielleicht habe ich auch ein wenig Wetterpoker gespielt; in den vergangenen zwei Wochen hatte ich jeden Tag vier verschiedene Onlinewetterportale konsultiert, um ja den besten Tag zu erwischen, an dem die Sicht besonders toll sein würde. Es sollte sich ja auch lohnen. Und ich hatte mir eine neue Kamera gekauft; eine, die mit der Perspektive und den Lichtverhältnissen zurechtkommen und mir ein paar besondere Andenken beschaffen würde.
Und man muss wohl auch dazusagen, dass der Pilo del Norte ein echter Geheimtipp war. Man findet ihn in keinem Reiseführer, die Wege hierher sind auf keiner Karte verzeichnet, und die Einheimischen reden bestenfalls flüsternd davon, damit ja kein Tourist auf die Idee kommt, diesen Ort, der laut Beschreibung mit seiner geovertikalexponierten Lage auch sicherlich eine Anlegestelle für Noahs Arche hätte sein können, zu einer Pilgerstätte zu machen.
Und so schaute mich der Esel an, der seinen Kiefer beinahe wie ein Wiederkäuer kreisen ließ, und ließ mich hier stehen. Otto. Ich nannte ihn Otto. In diesem Moment, und weil er so dämlich aussah mit seinen Kaubewegungen.
Aber seine Augen, die waren irgendwie nicht dämlich. Dann und wann trafen sich unsere Blicke, vornehmlich dann, wenn Otto genug Zellulosereste zwischen den Zähnen zum Zerkauen hatte, und irgendwann ahnte ich, was er mir sagen wollte. Ein Weg, den man in keinem Reiseführer findet. Und auch nicht in irgendeiner Karte. Ein Panorama, das man bei Instagram und Pinterest vergeblich sucht. Oh man. Otto war wohl nicht der einzige Esel hier.
Dann senkte Otto den Kopf wieder und ging sogar ein paar Schritte – nicht zu viele, denn es war fürchterlich heiß hier oben; die Sonne drückte vom Himmel herab, während der trockene Boden die Hitze reflektierte und ich förmlich darauf wartete, den Geruch von schmorenden Gummisohlen zu riechen. Aber nein: Wer war ich, dass ich mich von einem Esel verunsichern ließ? Ich wusste vielleicht nicht, welchen Weg ich nehmen sollte, aber immerhin wusste ich, dass ich das nicht wusste – während Otto nur kaute und mir weise Blicke zuwarf und gar nichts wusste. Außer vielleicht, dass er das viele trockene Zeug wohl irgendwann mit etwas Wasser herunterspülen sollte.
Ich versuchte es mit Logik. Ich befand mich auf einem kleinen Kamm; der eine Weg führte scheinbar zunächst wieder ein Stück bergab, allerdings konnte ich in einiger Entfernung erahnen, wie er sich am nächsten Hang wieder nach oben schlängelte. Der andere Weg führte direkt auf dem Kamm entlang, schien vor dem nächsten Hang jedoch abzubiegen. Wohin, das konnte ich nicht sehen. Beide Wege schienen gleichermaßen gut geeignet, zu einem tollen Aussichtspunkt zu führen – wenngleich ich noch nicht abschätzen konnte, wo der überhaupt liegen würde.
Um auf mein Problem zurückzukommen: Natürlich hätte ich einfach einen Weg nehmen und dann schauen können, wo ich herauskam. Das hatte ich ja bereits erwähnt. Aber ich ahnte, dass meine Kräfte schwanden. Mein Wasservorrat neigte sich dem Ende zu und meine Oberschenkel brannten wie Feuer. Ich hatte meine gesamte Campingausrüstung dabei, denn ich wollte die Nacht am Pilo del Norte verbringen. Meine Kamera sollte laut Produktblatt auch tolle Nachtaufnahmen machen können. Und wenn ich einmal an diesem mystischen Ort war, dann gleich das ganze Programm.
Otto kaute weiter, warf mir Blicke zu und schüttelte mit dem Kopf.
Ob er wusste, wo es hier Wasser gab? Irgendwo musste er doch auch etwas saufen. Jedenfalls war ich mir sicher, dass selbst wenn ich einen Weg einfach gehen würde, ich niemals weit genug kommen würde, um mit Sicherheit sagen zu können, ob ich richtig war, bevor ein Umkehren sinnlos wurde. Oder mit anderen Worten: Wenn ich mich für einen Weg entschied, musste ich ihn auch bis zum Ende gehen. Denn erst da würde ich erkennen, ob ich richtig war. Und so wie ich die Lage einschätzte, wäre das viel zu weit, um danach nochmal den anderen Weg zu versuchen.
Tja, Pattsituation. Mir graute davor, die falsche Entscheidung zu treffen. Und mir war heiß.
Irgendwann stellte ich den Rucksack ab und setzte mich in den Schatten. Otto sah zu mir herüber, schüttelte ein paar Fliegen ab, kaute, schaute, kaute, schaute. Es hatte beinahe etwas Hypnotisches. Aber ich konnte mich trotzdem nicht entscheiden.
Vor meinem inneren Auge sah ich dieses wundervolle Panorama, das ich nun wahrscheinlich nicht erblicken würde. Je länger ich hier saß, umso stärker wurde die Gewissheit, dass ich mich nicht würde entscheiden können und mich wohl bald auf den Rückweg machen würde. Lieber so, als zu riskieren, den falschen Weg zu gehen. Das würde ich nicht verkraften können. Ich kannte mich. Bestimmt übersah ich etwas, oder würde zumindest denken, dass ich hier etwas übersehen hatte, und das würde mich bis ins Grab quälen. Nachts würde ich schweißgebadet aufschrecken, weil ich von dieser Gabelung träumte; diese Bilder brannten sich schon jetzt in mein Hirn. Der dünne Trampelpfad, den ich heraufgekommen war, die drei knorrigen, halbverdorrten Bäumchen, die mühselig etwas Schatten spendeten, und dann dieser Felsbrocken, an dem sich der Weg teilte.
Und Otto. Otto, der Esel, der Nachfahre des Esels von Sancho Panza – hatte der eigentlich auch einen eigenen Namen?
Ich weiß nicht, wie lange ich hier stand – oder dann saß. Es könnten Stunden gewesen sein. Jedenfalls brachte ich es dann doch zustande, eine Entscheidung zu fällen – und zwar die einzige, die vernünftig war: Ich hatte kein Wasser, jede Faser meines Körpers schrie vor Schmerzen, mir war heiß, mein Kreislauf am Anschlag, und ich wusste nichts, außer dass es vernünftig war, umzukehren. Und so stand ich stöhnend auf, verdrängte die aufkommenden Gedanken an die Niederlage, die ich mir eingestehen musste, und wollte gerade zu meinem Rucksack greifen, als mir ein Gedanke kam.
Otto mochte nur ein Esel sein, und sein Kauen hatte mir genauso viel gebracht wie seine nicht vorhandene Fähigkeit, sein wahrscheinlich ebenso nicht vorhandenes Wissen über die Wege mit mir zu teilen. Doch ich musste zugeben, dass seine Anwesenheit etwas Tröstliches für mich hatte. Und so gebührte es sich, dass ich mich wenigstens von ihm verabschiedete.
Vorsichtig ging ich auf den Esel zu, der mich zuerst mit einer seltsamen Mischung aus Belustigung und Erleichterung anzuschauen schien, bevor er weiter (in sich hinein grinsend, wie mir schien) Gras zupfte und kaute. Ich achtete darauf, mich ihm von vorne zu nähern. Nicht, dass Otto den Eindruck machte, plötzlich wie wild auszutreten. Knochen waren so schnell gebrochen, und das konnte ich hier oben nun wirklich nicht gebrauchen. Vielleicht war er ja ebenso unentschlossen wie ich und seine wilde Seite wartete nur darauf, herauszubrechen. Lieber kein Risiko eingehen. Und so ging ich mit vorgestreckter Hand langsam auf ihn zu, bot sie ihm an, damit er daran riechen konnte, und begann dann, als er keine Einwände kundtat, seinen Kopf und seinen Hals zu streicheln. Sein Fell war ebenso staubig wie der Boden, auf dem wir standen, und meine Bewegungen wirbelten kleine Wölkchen auf. Auch stieg mir sein Geruch in die Nase; er roch nicht gut, wie ein Esel eben, aber immerhin noch besser als ich (auch ohne den metaphorischen Gestand der Niederlage). Otto schienen die Streicheleinheiten zu gefallen, zumindest redete ich mir das ein, um wenigstens einen kleinen Moment der Genugtuung zu behalten. Und während ich ihn streichelte, merkte ich, wie ich mich entspannte und den Blick wandern ließ. Denn wo ich in den letzten Stunden nur die Wegegabelung und die davon abgehenden Wege entlang des vor mir liegenden Kamms und des kleinen Hangs dahinter gesehen hatte, bemerkte ich nun, dass es links und rechts des Kamms nichts gab, was den Ausblick auf das, was dahinter lag, verstellen konnte. Und dahinter lag: Nichts.
Nichts.
Außer Nordspanien und Südfrankreich.

Dieser Ort mit seinen drei Bäumen und dem Stein und dem Esel hatte etwas Magisches. Ich verstand es in dem Moment, als sich mein Blick für das Panorama öffnete. Nicht nur hatte er im richtigen Moment meine pathologische Entscheidungssucht betäubt, sodass ich hier verharrte und nicht wild dem weiteren Weg hinterherjagte, wodurch ich nie im Leben den Ausblick zu beiden Seiten des Kamms entdeckt hätte. Nein, er hatte mich auch die Vorräte vergessen lassen, die ich für die Nacht eingepackt hatte. Ebenso die Tatsache, dass es ein Samstag war, kein Sonntag. Ich hätte genug Zeit gehabt.
Aber vor allem hat er mich eines gelehrt: Ein Mann mag viel wissen, und ein Esel wenig. Aber ein Mann und ein Esel wissen am Ende doch mehr als ein Mann allein. Und Otto hatte die ganze Zeit gewusst, dass das Gras am Pilo del Norte zwar trocken war, die Aussicht aber phänomenal.