Die unwissenden Drei (Kurzgeschichte)

Eine kurze, lehrreiche Erzählung, die man häufig dann an den Feuern der Stämme der Westlichen Wildnis hört, wenn die Dinge aus dem Gleichgewicht geraten.

„Eine Blume, die sich über alle anderen erhebt, ist meistens die erste, die gepflückt wird.“ [Sprichwort aus der Westlichen Wildnis]

Unsere Götter haben viele Gesichter und hören auf viele Namen. Sie sind mächtig, doch fehlbar. Sie leben nicht ewig, sondern werden erschaffen und vernichtet, geboren und getötet. Manche überdauern ganze Zeitalter, andere nur wenige Menschenleben; an manche erinnert man sich auf ewig, an andere überhaupt nicht. Das Wirken der Götter ist ein wogendes Auf und Ab, ein Zerren und Ringen um Gleichgewicht und Harmonie, ein unendlicher Kampf um eine Utopie, ein Streben, das seinen einzigen Zweck unerreichbar macht.
Doch findet sich in alten Überlieferungen der Stämme des Waldes ein Hinweis darauf, wie dieser selbstzerstörerische Lauf seinen Anfang nahm. Es war in den ersten Tagen dieser Welt, als es der Götter nur drei gab: Einen Gott der Erde, einen des Lichts und einen des Wassers. Sie waren Wesen, deren Sinn von nichts als ihrer Aufgabe erfüllt war. Sie kannten weder Maß noch Gier, wussten nichts über die Elemente, ahnten nicht, dass sie Götter waren und entbehrten so auch jeglichen Verständnisses von Abhängigkeiten, Wirkungen und Folgen. Ihr Blick und ihr Geist waren allein auf das gerichtet, wovon sie meinten, dafür auf der Welt zu sein.
Besonders geschickt stellte sich hierbei nun der Gott der Erde an. Er ließ Pflanzen und Tiere im Überschwang gedeihen, sodass alles in verschwenderischer Pracht und farbenfrohem Reichtum funkelte und strahlte.
Das Werk des Gottes der Erde erregte damit die Aufmerksamkeit des Gottes des Lichts. Hatte der sich bislang damit begnügt, der Welt zu jenem Maß an Helligkeit und Wärme zu verhelfen, die sie zum Bestehen brauchte, regte sich in ihm ein erster, zaghafter Funken dessen, was sich über Zeitalter hinweg zu tief verankerter Missgunst entwickeln sollte. Tief in seinem Inneren spürte der Gott des Lichts, dass er überflüssig sein könnte, dass er nicht mehr gebraucht werden würde. Denn ohne zu verstehen, dass sein Licht es war, dass das Funkeln auf der Erde erst ermöglichte, musste er darin eine Bedrohung sehen. Und das brachte ihn dazu, mehr als nur das Notwendige zu tun. Sehr viel mehr. Das Licht wurde gleißend, Schatten und Dunkelheit gab es nicht mehr. Die Welt erhitzte sich, bis sie schließlich in Flammen aufgehen und verbrennen musste.
Doch die Hitze zog nicht nur über das Land, sondern auch über die Flüsse, Seen und Meere der Welt. Die Gewässer begannen zu verdunsten; langsam erst, doch dann immer schneller. Der Gott des Wassers bemerkte es wohl, doch fehlte auch ihm das Wissen um die Umstände und Zusammenhänge. So verstärkte er in Wut und Angst sein Bemühen um kühlenden Regen, ohne zu ahnen, dass der aufsteigende Dunst sich mit den von ihm geformten Wolken verbinden und in mächtigen Regenschauern über Land und Meer entladen würde. Das vom Himmel stürzende Wasser stand dem Feuer in seiner Zerstörungskraft nicht nach, und der Regen ergoss sich noch, als die letzten Feuer lange gelöscht waren.
Die drei Götter der Erde, des Lichts und des Wassers konnten nur tatenlos zusehen, wie die Asche in die Meere gespült wurde und die See versandete. Sie blickten auf das Geschehen, das all ihr Wirken zerstört hatte, verstanden nicht, wie es dazu hatte kommen können, ahnten jedoch, dass sie nicht frei von Schuld waren. Doch so, wie die Meere zurückgingen, ließen schließlich auch Regen, Neid, Wut und Angst nach. Und im Gleichgewicht von fruchtbarer Erde, wärmendem Licht und nährendem Regen sahen die drei Götter neues Leben keimen und gedeihen.
Hatten sie etwas gelernt? Hatten sie die richtigen Schlüsse daraus gezogen, ihre Abhängigkeiten erkannt? Man mag es glauben, und wenn nicht bei diesem ersten Mal, dann sicher bei einem der ungezählten anderen, die darauf folgen sollten. Denn so wie das Gleichgewicht einmal verloren und wiedergefunden war, geriet es stets immer wieder aufs Neue ins Wanken. Die Gründe dafür waren und sind so vielfältig wie mitunter klein. Es sollte ein langer Weg werden, bis die Götter schließlich den großen Zusammenhang verstanden und die Zeichen zu lesen lernten, die ihnen zeigten, wann sie ihr Wirken eindämmen oder verstärken sollten.
Und als es endlich so weit war, erschienen neue Götter und nahmen den Platz der alten ein. Mit ihnen begann das Ringen von Neuem. So will es die Natur, und aus diesem Grund ist die Welt stets in Bewegung.