Die Burg der Zwillinge (Kurzgeschichte)

Eine Geschichte darüber, wie ein paar harmlose Würfel eine Burg zum Einsturz brachten. Immer wieder.

„Das Leben ist ein Würfelspiel.“ [Ausschnitt aus einem Lied]

Einst geschah es so, dass ein alter Ritter, Vater von Zwillingen und Herr einer trutzigen Burg, das Ende seines Lebens und die letzte Reise in das Reich der Ewigen nahen sah. Und so verfügte er, dass sein Erbe, das die Burg mit einschloss, in gleichen Teilen an seine Kinder übergehen sollte: seinen Sohn und die um wenige Herzschläge ältere Schwester.
Am Tag, als der Vater starb, wurden die Geschwister erwachsen, und sie hielten ihr Wort und teilten Burg und Erbe gerecht untereinander auf. So kam es, dass die Schwester über einen Teil der Burg verfügte und der Bruder über einen anderen, und sie vereinbarten, über alles, was die ganze Burg betraf, einen gemeinsamen Willen zu finden und stets so zu entscheiden, dass es dem Andenken ihres Vaters immer würdig war.
Eine Zeit lang kamen sie friedlich miteinander aus, doch mit den Jahren entwuchsen dem Geist des Bruders missgünstige Zweifel. Er sah, dass andernorts die Brüder ihr Erbe nicht mit den Schwestern zu teilen brauchten, und fragte sich, warum es in seinem Fall nun anders war. Doch anstatt dafür gute Gründe zu suchen, und das wäre nicht einmal schwer gewesen, fand er stattdessen deren Gegenteil. Aus seinen Zweifeln wurden Ängste, und die größte war, dass seine Schwester beschließen würde, sich einen Mann zu suchen und zu heiraten. Denn damit, und das erschien dem Bruder nur logisch und richtig, ginge der Anspruch auf Burg und Reichtum an den neuen Gatten über und er selbst letztlich leer aus. Der Bruder mochte seine Schwester, und deswegen fürchtete er sich, seine Gedanken mit ihr zu teilen, denn er wusste, dass es sie verletzen würde. Stattdessen begann er, sie zu meiden und sich im Stillen mit seiner Not zu befassen. Es kam nicht überraschend, dass ihm letztlich kein anderer Ausweg mehr in den Sinn kam, als seine Getreuen zu sammeln und die Übernahme der schwesterlichen Anteile der Burg in Angriff zu nehmen.
Doch in einer Burg haben die Mauern Ohren, und das gilt im Besonderen für Burgen, die so alt wie die der Zwillinge waren. So erfuhr die Schwester von den Plänen ihres Bruders und zwang ihn daraufhin zur Unterredung, indem sie auf den Willen ihres Vaters und das gemeinsame Versprechen, vernünftig zu handeln, verwies.
So trafen sich die beiden dann, und es zeigte sich, dass der Bruder mit seinen Befürchtungen Recht gehabt hatte: Nicht etwa was die ehelichen Pläne seiner Schwester betraf, sondern, und das dafür umso mehr, wie entsetzt sie über seine Gedanken sein würde. Der Schmerz war groß, bei allen beiden, und es entbrannte ein Streit, der die geschwisterlichen Bande in lodernde Flammen aufgehen und nicht viel mehr zurückließ als glimmende Asche und furchtbar nässende Wunden.
In den folgenden Tagen verbarrikadierten die Zwillinge ihre jeweiligen Teile der Burg, bereiteten sich auf einen Kampf der Endgültigkeit vor und schmiedeten finstere Pläne. Doch je näher die Entscheidung rückte, umso größer wurde der Widerstand unter ihren Getreuen, die nicht verstanden, warum sie Glück und Leben im Kampf mit den ihren riskieren sollten. Vielleicht war es diese Angst, die sich über die Burg legte wie eine magische Kugel, vielleicht war es jedoch auch der Wille des Vaters, der aus dem Ewigen Reich eine Botschaft sandte: Zur etwa gleichen Zeit, und das völlig unabhängig voneinander, kamen die Geschwister auf eine Idee. Statt einen Kampf auszutragen, der viele Leben kosten und mit hoher Wahrscheinlichkeit die Burg vernichten würde, wollten sie sich auf ein Würfelspiel treffen, das sie als Kinder schon zusammen gespielt hatten. Es erschien ihnen als die würdigste Weise, diesen Streit zu klären, wenn es schon keine Aussicht darauf gab, zu den alten Verhältnissen zurückzukehren.
Die Schwester war sich dabei sicher, dass Tarn, der Schild ihr beistehen würde und sie nicht verlieren konnte, da sie sich ja nur verteidigte. Ihr Bruder wähnte indessen Idira, das Schwert auf seiner Seite, denn sein Angriff diente ja letztlich auch nur seiner Verteidigung und war als Mittel dem Zweck durchaus angemessen.
So trafen sich Schwester und Bruder im höchsten Turm der Burg und begannen das Würfelspiel. Die Regeln waren einfach: Gewinnen würde, wer zweimal höher als der Gegner gewürfelt hatte. Doch ihr ureigenes Dilemma, das sie einander als Zwillinge so ähnlich und nah waren, übertrug sich auch auf ihre Würfelwurfe, denn anstatt eine schnelle Entscheidung zu finden, glichen sich die Würfe andauernd aus. So ging es den ganzen Abend und die ganze Nacht, bis in den Morgen hinein. Das Geschehen war von solcher Spannung und Dramatik, dass die Ewigen Zwillinge, Jarn und Idira höchstselbst, ihm beiwohnten und die Daumen für ihre Partei gedrückt hielten.
Die Nerven der Geschwister waren zum Zerreißen gespannt, sie sprachen kein Wort, tranken nicht und aßen nicht, machten keine Pause und nichts anderes als die immer gleiche Bewegung mit den Händen, die die Würfel warfen. Und vermutlich wäre es bis in alle Ewigkeit so weitergegangen, wenn nicht plötzlich der Würfel auf einer Kante liegen geblieben wäre, im Gleichgewicht gehalten von kaum mehr als einem winzigen, lächerlichen Staubkorn oder einer unsichtbaren Hand, die dem Ganzen ein Ende bereiten wollte. Sofort deutete der Bruder nun das zu seinen Gunsten, und es lag in der Natur der Sache, dass seine Schwester das anders sah. Und auch Jarn und Idira selbst, von ihren menschlichen Pendants unbemerkt, entbrannten über diesen Fall in Streit. Auf laute Worte folgten böse Gesten, und auf die bösen Gesten folgte ein mühsam gerade noch im Zaum gehaltenes Gekabbel, das jedoch ausreichte, um einander gegen den Würfeltisch zu stoßen und für eine neuerliche Änderung der Würfelergebnisse zu sorgen. Dieses Mal war das Ergebnis jedoch zugunsten der Schwester und sie eilte sich, sich endlich als Siegerin erklären zu können. Ein Wink der Götter sei es gewesen, ein Schiedsspruch, der nicht anzufechten sei, doch der Bruder hielt dagegen und warf der Schwester seinerseits Betrug vor. Und auf gleiche Weise stritten die Ewigen Zwillinge, woraufhin Idira im Zorn ihr Schwert hob und mit aller Macht auf den Schild ihres Bruders Tarn schlug.

Was dann folgte, war ein gewaltiger Donner; ein Beben, das die Erde erschütterte.

Manche sagen, es war Idiras Schwert, das auf den Schild ihres Bruders traf. Andere behaupten, es war die Stimme Audras, die über den Streit ihrer Kinder in Zorn geraten war. Und einige denken, es war die Faust Jariks, der dem unwürdigen Treiben der Menschen, die die Ehre und das Andenken ihres Vaters mit einem Streit über ein Würfelspiel beschmutzten, ein Ende setzen wollte.
Auf jeden Fall stürzte augenblicklich der Turm ein und begrub die zankenden Geschwister unter sich, während die Ewigen Zwillinge mit eingezogenen Köpfen in ihr Zuhause zurückkehrten. Andere Menschen wurden nicht verletzt, der Gnade der Ewigen sei Dank. Allesamt verließen sie den Ort des Unglücks und blickten mit traurigen Augen zurück, denn sie hatten verstanden, dass die Geschwister dem Fluch ihrer Geburt zum Opfer gefallen waren. Die Burg der Zwillinge, so wie man sie fortan nannte, verkam zur Ruine – und sollte es auch von da an lange Zeit bleiben.

Doch damit ist die Geschichte der Burg der Zwillinge noch nicht zu Ende erzählt. Als eines Tages ein neuer König kam und die Burg für sich beanspruchte, sie wieder aufbaute und dann ein großes Fest feierte, bei dem nicht nur getrunken und gesungen, sondern auch gewürfelt wurde, stürzte abermals der große Turm ein und begrub die neuen Bewohnte unter sich. Diese Tragödie ließ die Menschen den Ort viele Jahre meiden, bis schließlich Räuber und Schmuggler in den mittlerweile zugewucherten Mauern einen Unterschlupf fanden. Doch als auch sie die Würfel aus ihren Taschen holten und um die Beute zu spielen begannen, wurden sie von Steinen erschlagen, die sich von den brüchigen Mauern lösten. Und so begann sich nun herumzusprechen, dass der Ort von den Ewigen verdammt sei, und niemand wollte hier leben.
Bis ein neuer Herr kam, der sich für schlauer hielt als alle anderen, die vor ihm hier gewesen waren, und jedes Spiel, gleich ob mit Würfeln, Karten oder Worten, in seinen Mauern untersagte. Er baute die Burg ein weiteres Mal auf, und lange war sie von Bestand, denn der Herr achtete penibel auf die Einhaltung seines Gebots und stellte jedes Ansinnen, das dem seinen entgegenwirkte, unter schwere Strafe. So wurden die Menschen, die hier lebten, unglücklich und hart, so wie auch ihr Herr durch das Verbannen von Freude und Lust unleidlich und garstig geworden war. Und so kam eines Tages ein junger Mann, der dem Alten nicht wohlgesonnen war und ihn loswerden wollte, und schmuggelte ein paar Würfel in die Burg. Auf welche Weise, darüber zerbricht man sich bis heute Kopf und Maul, denn sicher ist, dass es eine ganz besondere Kunst gewesen sein musste. Doch wie auch immer er es schaffte: Als er die Würfel schließlich in einer versteckten Kammer aus der Tasche holte und sie mit geübter Bewegung aus der Hand warf, stürzten die Mauern um ihn ein, noch bevor die Würfel auf dem Tisch aufschlugen.

Seit diesem Tag wird die Ruine, die einst die Burg der Zwillinge war, endgültig gemieden – und seit diesem Tag ist auch in manch anderen Burgen das Würfeln verboten, denn es hat sich gezeigt, dass es weder gegen Wahn noch Vernunft, weder Angst noch Freude, Triumph noch Verlust, Glück noch Bestimmung ein verlässliches Mittel gibt. Und ganz besonders gilt das für das Würfeln, das nicht weniger ist als die Verkörperung all dieser Dinge.


Wenn Dir diese Geschichte gefallen hat und sie Dich für eine kurze Zeit in eine fantastische Welt entführen konnte, dann lade mich doch auf meinen nächsten Kaffee ein. 🤗 Denn je mehr Kaffee, umso mehr Geschichten. Diese Wahrheit gilt schließlich in allen Welten.