Diese Geschichte entstand aus Ideen des Publikums bei der Lesung im KaffeeSatz Chemnitz am 29. November 2024.
Eine Fabel aus der Westlichen Wildnis über das Schicksal zweier Schwestern, ohne deren Unterschiede das Leben der Welt vielleicht ein ganz anderes wäre.
„In dem, was uns unterscheidet, findet sich die Ähnlichkeit, die uns zu einem Ganzen macht.“ [Sprichwort aus der Westlichen Wildnis.]
Einst schenkte der Wald zwei Mädchen das Leben. Sie waren Kinder der Bäume und Geschwister der Tiere, Wesen des Windes und des Wassers, der Erde und des Feuers. Malea und Nolea waren ihre Namen, und sie waren ebenso unzertrennlich, wie sie verschieden waren. Wo Malea wandelte, war Licht, und Nolea, stets an ihrer Seite, brachte den Schatten. War Malea von Wärme umgeben, so war Nolea es von Kühle, ließ Malea aus Knospen bunte Blumen sich entfalten, färbte Nolea die Blätterwelt in üppiger Farbenpracht.
Doch trotz all des wundersamen Zaubers, der die Schwestern umgab, waren sie einfache, sterbliche Menschen. Aus Mädchen reiften junge Frauen, und mit ihrem Körper formten sich auch ihr Geist und die scharfen Züge ihrer Wesen. Die Kontraste zeichneten sich mit jedem Tag deutlicher, auch, weil Malea ihrer Neigung entsprechend sonnengelbe Kleidung wählte, während Nolea die unergründlichen, dunklen Töne der tiefen See für sich erkor. Viel schwerer wog jedoch, dass die unverfängliche Leichtigkeit der Jugend von ihnen abfiel, und ohne einen Moment der stillen Einsamkeit erwuchs ihrer Unzertrennlichkeit mit den Jahren ein immer verschlungeneres Dornengeflecht aus Zwist und Unmut. Es nahte der Tag, vor dem beide sich im Stillen fürchteten: der Tag, an dem der Unmut zwischen den beiden stärker wurde als ihre Angst davor, die einzigartige Verbindung zueinander zu verlieren. Und als er dann heran war und das Band der beiden Schwestern im wütenden Sturm eines heftigen Streits, in dem sich all die kleinen und unbedeutenden Uneinigkeiten der vergangenen Jahre einem die Welt erschütternden Gewitter entluden, zerriss, schworen sie, einander nie wiederzusehen, und liefen in gegensätzlichen Richtungen davon. Nolea, deren Haare nun das samtene Schwarz der Leere angenommen hatten, suchte und fand den Weg ins Meer, tauchte an die tiefste Stelle und verbarg sich dort vor dem Licht. Malea hingegen, ihrerseits von silbernen Haaren umweht, kletterte auf den höchsten Berg, um den Ort zu finden, wo das Licht am hellsten war.
Auf diesem Berg nun stand ein einsamer Baum, und auf dem Baum, da lebte eine Schlange. Malea bemerkte sie zunächst nicht, denn kaum hatte sie den Ort erreicht, brach sie vor Erschöpfung, Wut und Verzweiflung in Tränen aus. Sie sank hernieder auf ihre Hände, und während sie so kauerte, schrie sie ihren Schmerz über die ganze, weite Welt hinweg.
Die Schlange beobachtete sie, so wie sie von ihrem Zuhause die ganze Welt aus beobachtet hatte. Sie wusste um den Streit, der die unzertrennlichen Schwestern gegeneinander aufgebracht hatte, wusste, dass diese Wunden nie heilen würden, wusste, dass die eine ohne die andere doch nicht sein konnte.
„Sieh“, richtete sie das Wort an Malea, „dein Schmerz ist der eines Wesens, dem seine Natur entrissen wurde. Deine Schwester und du seid nicht dazu bestimmt, voneinander getrennt zu sein. Und doch bist du hier, an einem Ort, den deine Schwester niemals finden wird, und deine Schwester versteckt sich dort, wohin du nie gelangen kannst. Euer Schmerz wird bald die ganze Welt erfassen, und mit ihm wird sie zugrunde gehen.“
Malea richtete sich auf und betrachtete die Schlange mit erstauntem, verständnislosem Blick. Doch selbst wenn sie die Worte gefunden hätte, aus denen sie eine Frage hätte formen können, wäre es ihr nicht möglich gewesen, die Weite der Antwort zu fassen. Die Schlange wusste all dies, und fuhr also fort: „Diese Welt, wie du sie siehst, kennt kein Gleichgewicht, kennt keinen Stillstand. In ihr kann nur leben, was in Bewegung bleibt, und um sich zu bewegen, braucht es Unterschiede, die im gegenseitigen Wechsel an Kraft gewinnen und verlieren. Unterschiede wie die, die Nolea und dich unzertrennlich machen.“
„Nolea ist für mich verloren“, antwortete Malea, und kaum hatte sie diese Wahrheit ausgesprochen, brach sie über den Schmerz erneut in Tränen aus.
„Ja, mit deinen Augen und deinem Herzen muss dir das so erscheinen“, erwiderte die Schlange. „Euer Schwur ist ewig. Doch lass mich dir ein Gleichnis zeigen, Menschenfrau. Ich habe die Gestalt einer Schlange, nicht wahr? Mein Leib ist einer der Erde, des Bodens. Zum Fliegen taugt er nicht. Und doch sehne ich mich nach Wärme, lass mich von ihr durchfließen und beleben und mit Gier erfüllen: Gier nach mehr, mehr als ich jemals haben kann. Warum, denkst du, habe ich diesen Ort für mich gewählt? Es ist der wärmste, den ich kenne, dem warmen Licht so nah. Und es ist das Zuhause meines Bruders.“ Die Schlange zuckte mit dem Kopf, und als Malea ihren Blick in diese Richtung lenkte, entdeckte sie einen mächtigen Falken, der die beiden aufmerksam musterte. „Mein Bruder ist ein Wesen der Luft, und seine Klauen sind es, die ich fürchte wie er meinen Biss. Auch wir leisteten einander einen Schwur: Uns das Leben zu lassen, bis der Tag kommt, an dem es sich zu sterben lohnt.“
„Niemand will sterben“, schluchzte Malea.
„Und doch gibt es Schlimmeres als den Tod, nicht wahr? Und ist ein Tod, der das Leben der Welt erhält, kein gutes Ende für einen Gott?“ Und mit diesen Worten schnellte die Schlange nach vorne, ließ sich vom Baum fallen und blieb im Schoß seiner krummen Wurzeln liegen. Malea eilte zu ihr und betastete voller Angst die zertrümmerten Knochen. „Deine Wärme, Malea, ist es, was ich spüren wollte. Deine Wärme braucht die Welt, und die Welt braucht die Kühle deiner Schwester. Ihr tragt etwas in euch, das nicht verloren gehen darf, und auch wenn ihr einander nie mehr gegenüberstehen werdet, so sollt ihr fortan und auf ewig unzertrennlich sein, um das Leben sich in Wogen zwischen euch entfalten zu lassen. Nichts kann in der Welt ohne sein Gegenteil bestehen, und so wie mein Bruder, das Wesen der Lüfte, mich nun töten wird, wird mein Gift seine Flügel lähmen, auf dass der Boden uns in inniger Umarmung ein Grab sein wird. Nolea und du werdet unseren Platz einnehmen, denn schufen wir das Leben zwischen Himmel und Erde, werdet ihr es zwischen Hell und Dunkel bis zu jenem Tag bewahren, an dem die Welt für immer untergehen wird.“
An Maleas Seite erklang das Rascheln eines Federkleids. Der Falke ergriff mit der Liebe und Zärtlichkeit eines Bruders den zerbrochenen Leib der Schlange, und als er sich mit ihm in die Lüfte erhob, sah Malea, wie sich die Schlange an ihn schmiegte. Mit der gleichen Liebe und Zärtlichkeit vergrub sie ihre Zähne im Nacken des Vogels, und einer Feder gleich sanken sie hinab in den Schoß der Welt. Es war dieser Moment, in dem Maleas Herz seinen letzten Schlag tat, und weit, weit entfernt erging es ihrer Schwester Nolea ebenso. Maleas Licht wanderte zum Horizont und versank in einem großen, leuchtenden Ball, nahm der Welt die Wärme und ließ ihr nichts als einen dunklen, funkelnden Himmel als Decke. Und ihr gegenüber entstieg Nolea dem Meer, schenkte der Welt ihre Ruhe und einen sanften Schimmer, auf dass sie nicht in der Dunkelheit verzweifelte, wachte über sie, bis auch sie zur Ruhe sank und Malea von Neuem ihren Platz einnahm, in einem steten Wechsel, von da an als Tag und Nacht bekannt.