Neros‘ Heimkehr

Aquistea,
im einundneunzigsten Jahr des vierten Zeitalters, nur wenige Wochen vor dem Ende der Strafexpedition, die die Vereinigten Königreiche des Nordens gegen die Barbaren aus dem Westen führten.

***

Mit der Dämmerung setzte auch der Regen wieder ein. Vor zehn Tagen war Neros in Sarushafen an Land gegangen, und seit zehn Tagen hatte er nicht einen Flecken blauen Himmel gesehen. Am Anfang war ihm der Regen recht gewesen. Er passte zu seiner Stimmung. Doch mittlerweile war er einfach nur noch lästig. Nicht nur, dass er selbst und sein spärliches Gepäck völlig durchnässt waren – viel schlimmer war, dass das viele Wasser die Wege hatte weich und sumpfig werden lassen. Jeder Schritt seines Pferdes wurde von einem schmatzenden Geräusch begleitet. Es kam ihm so vor, als würde er drei Mal so lange für den Weg nach Hause brauchen.
Allerdings war er sich auch nicht mehr so sicher, wie lange er vor zwei Jahren für die Strecke von Kiefernhain nach Sarushafen gebraucht hatte. Damals war es noch ein Abenteuer gewesen. Er hatte sich für einen richtigen Mann gehalten, wie er an der Seite seines Vaters in den Krieg gegen die Barbaren aus der Westlichen Wildnis gezogen war; sein Schwert am Gurt, das Wappen ihres Lehnsherren auf der Brust, und im Kopf die Erinnerung an die letzte Nacht, als er bei seiner jungen Braut gelegen und sich mehr als einmal und bis zum Anbruch des Morgens von ihr verabschiedet hatte. Irina. Süße Irina. Es war ihre Hochzeitsnacht gewesen.
Ein naives Kind war er gewesen, mehr nicht. Sein Vater war gefallen, doch nicht wie ein ehrwürdiger Held im Kampf, sondern dahingerafft vom Fieber einer entzündeten Wunde, die ihm ein dreckiger Pfeil zugefügt hatte. Neros trug das Schwert seines Vaters nun an seiner statt nach Hause. Und von der süßen Erinnerung war kaum mehr als der Name seiner Frau geblieben. Selbst ihr Gesicht, ihr Duft, die Formen ihres Körpers waren im Laufe der Wochen und Monate verblasst. Immerhin: Er kehrte nach Hause zurück. Und sie würde ihn willkommen heißen. Sie und sein Bruder.
Der Gedanke an seinen Bruder kam mit einem bitteren Beigeschmack. Von klein auf hatten sie ihre Probleme miteinander gehabt. Neros war der Ältere, und Thoran hatte sich nie in seine Rolle als Zweiter der Erbfolge fügen können. Ihr Vater hatte damals gehofft, dass es sie endlich einander näherbringen und Thoran einen Platz in der Welt verschaffen würde, wenn sie drei zusammen in den Krieg zogen. Doch dann war zwei Tage vor ihrem Aufbruch das Fieber über Thoran gekommen. Ihr Vater hatte um sein Leben gefürchtet; noch bevor sie Sarushafen erreicht haben würden, hätte es ihn sicher dahingerafft. Das waren seine Worte gewesen. So war Thoran zurückgeblieben – und war auch nicht nachgekommen. Neros war gespannt, was aus ihm geworden war – und wie er auf die Nachricht von Vaters Tod reagieren würde.
Das letzte Licht des Tages schwand, doch er kannte den Weg gut genug. Sein Zuhause lag in einem Tal in den westlichen Ausläufern des Anvaligebirges, inmitten eines hoch gewachsenen Kiefernwaldes, dem das Dorf auch seinen Namen zu verdanken hatte. Die Menschen hier lebten davon, das Holz als Bau- und Brennmaterial in die umliegenden Städte zu verkaufen. Neros atmete tief ein. Es roch nach nassem Holz, nach Pilzen und ein wenig nach kaltem Rauch, der vom Tal her aufstieg.
Er zügelte sein Pferd vor dem Haus seines Vaters. Es war das größte Gebäude im Dorf, wenn man von der Sägemühle absah. Sein Vater war zwar kein Ritter gewesen, aber ein im Königreich angesehener Mann. Das Dorf hatte gute Gewinne eingebracht, vor allem in Kriegszeiten, und so zeugte das Haus mit seiner Größe, den geschnitzten Ornamenten am Giebel und dem ausladenden Balkon, der sich auf der Rückseite zum Wald hin öffnete, von einem gewissen Wohlstand.
Neros sah sich kurz um. Viel schien sich nicht verändert zu haben. Er brachte sein Pferd zu dem kleinen Stall, der zum Haus gehörte, befreite es von Sattel und Zaumzeug und rieb es mit Stroh ab.
Dann betrat er das Haus. Im Erdgeschoss befanden sich die offene Küche und der große Aufenthaltsraum, wo sich tagsüber das Leben abspielte und am Abend die Bediensteten schliefen. Im oberen Stockwerk gab es vier abgetrennte Zimmer. Das Größte war das Arbeitszimmer seines Vaters. Von hier aus hatte er die Geschicke seines Dorfes gelenkt, sich mit wichtigen Handelspartnern getroffen und Ritter, Händler und königliche Gesandte empfangen. Die drei übrigen Zimmer waren kleiner. Es waren die Schlafzimmer seines Vaters, seines Bruders und sein eigenes, allesamt mit einem bequemen Bett und einem kleinen Kamin. Auf den Kamin freute er sich jetzt am meisten.
Als er die Tür öffnete und triefend nass in die Halle stapfte, sprangen zwei junge Burschen auf, die es sich offenbar bereits an der Feuerstelle bequem gemacht hatten. Neros kannte ihre Gesichter nicht, doch auch sie schienen Brüder zu sein. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, mussten sie für das Vieh zuständig sein, das seinem Vater gehörte. Gehört hatte. Jetzt gehörte es ihm. Es fühlte sich noch immer fremd an, so zu denken. Die zwei Burschen starrten ihn an wie einen alten Waldschrat.
»Können wir Euch helfen?«, brachte schließlich einer von ihnen hervor, als Neros keine Anstalten machte, sich vorzustellen.
»Sicher«, antwortete Neros. »Ich habe Hunger, ich bin nass bis auf die Knochen und ich bin müde.«
»Und warum sollte das unser Problem sein?«, gab der Zweite zurück. »Unser Herr erwartet keinen Besuch. Ihr müsst Euch in der Tür geirrt haben. Die Schänke ist unten am Fluss.« Sein unverschämter Ton trieb Neros die Zornesfalten auf die Stirn. Selbst wenn er ein Reisender wäre, sein Vater hätte nie jemanden ohne eine Mahlzeit und einen Platz am Feuer wieder auf die Straße gesetzt. Er war müde. Es fiel ihm schwer, die Fassung zu bewahren.
»Euer Herr steht vor euch. Und jetzt seht zu, dass ich was zu essen bekomme und meine Kammer hergerichtet wird, bevor ich wirklich sauer werde.«
»Pah, unser Herr ist oben mit seiner Frau. Und jetzt packt Euch fort, bevor er Euch eigenhändig aus dem Haus wirft!«
»Ihr wagt es mir zu drohen?«, donnerte Neros. »Habt ihr denn keine Ahnung, wer hier vor euch steht, ihr faulen Hunde?« Die zwei Burschen zuckten zusammen und warfen sich unsichere Blicke zu. Neros zog das Schwert seines Vaters aus der Scheide und stellte es vor sich auf den Boden, die Hände auf der Parierstange. Auch wenn sie das Schwert nicht kennen mochten, das eingravierte Wappen erkannten sie. Der Keilerkopf war das Zeichen ihrer Familie, obwohl ihr Vater stets ein Geheimnis daraus gemacht hatte, wieso er ein Wappen führte – dies war sonst nur dem Adel vorbehalten. So fand sich das Wappen auch nur auf dem Schwert und auf einem schlichten Wandteppich, der im Arbeitszimmer ihres Vaters hing. Neros konnte sehen, wie es den beiden Burschen zu dämmern begann, wer er war.
»Verzeiht, Herr«, begann der ältere der beiden Brüder zu stottern; derjenige, der Neros eben noch so respektlos des Hauses hatte verweisen wollen. »Wir hatten nicht erwartet, dass der hohe Vater von Herr Thoran noch so jung aussehen würde.«
»Der hohe Vater? Seid ihr wirklich so dumm, wie ihr ausseht?«, polterte Neros. »Ich bin sein Bruder, verdammt! Unser Vater ist im Krieg gefallen, und ich kehre als sein Erbe zurück! Und jetzt bewegt euch, oder ihr verbringt die nächsten Nächte im Schweinestall!«
»Sein Bruder? Herr Thoran hat keinen Bruder. Also ich meine, er hat nie einen erwähnt«, antwortete der jüngere der beiden nun, sichtlich eingeschüchtert von Neros‘ Wutausbruch.
»Wie, er hat keinen Bruder erwähnt? Natürlich hat er einen! Er steht vor euch«, gab Neros zurück. Doch als er die ratlosen Blicke der Burschen sah, gab er es auf. »Ist er denn da? Thoran.«
»Ja, er ist oben. Es ist spät, er schläft bestimmt schon.«
»Dann weckt ihn.«
»Jetzt?«
»Nein, morgen.«
»Gut. Wollt Ihr in der Schänke schlafen? Wir richten Herrn Thoran –«
»Ich zähle bis Drei. Wenn Thoran dann nicht hier vor mir steht, dann schwöre ich bei den Ewigen, dass ich hier alles –«
»Ist es das, was man dir im Krieg beigebracht hat, Neros? Herumschreien und mit dem Schwert drohen?« Ohne dass es Neros oder die zwei Burschen bemerkt hatten, war jemand von oben die Stiege heruntergekommen.
»Thoran. Schön dich zu sehen«, erwiderte Neros. Sein Tonfall ließ offen, wie ernst er das meinte.
»Ja. Ich hatte nicht mit dir gerechnet. Wo ist Vater?«, antwortete Thoran kühl. »Ich sehe, du trägst sein Schwert.« Neros war es zuwider, hier zwischen Tür und Angel mit seinem Bruder über den Tod ihres Vaters zu sprechen. Er überlegte gerade noch, wie er eine der Situation angemessene Antwort geben konnte, da erklang eine Stimme, die er hier überhaupt nicht erwartet hatte.
»Neros? Wo kommst du denn her?« Die Stimme klang eher verwundert als entsetzt. Und da stand sie, am oberen Ende der Stiege, und sah zu ihm herab. Für eine kurze Weile war Neros‘ Groll verschwunden, sein Herz machte einen kleinen Freudensprung und über sein Gesicht stahl sich ein Lächeln. Seine Fantasie ließ sie die Stiege herabgleiten, langsam, mit einem glücklichen Strahlen und verlangendem Feuer in den Augen, ließ sie sich ihm um den Hals werfen und ihm wunderbare Dinge ins Ohr hauchen. Wie sehr sie ihn vermisst hatte, wie lang und einsam die Tage ohne ihn gewesen waren, wie froh sie darüber sei, ihn gesund und wohlbehalten wiederzuhaben – alles Dinge, die er ihr auch gerne ins Ohr flüstern würde.
Stattdessen sah Neros, wie sie eine Hand auf Thorans Schulter legen wollte, sich dann aber doch besann und sie stattdessen auf das Geländer legte.
Neros fühlte sich, als wäre er wieder im tiefsten Barbarenland. Aus seiner Brust ragte der abgebrochene, dreckige Schaft eines Pfeiles, abgefeuert aus dem Hinterhalt. Wenn er ihn jetzt herauszog, würde er zusammensacken und verbluten. So wollte er seinen Feinden aber nicht in die Hände fallen. Lieber ertrug er die Schmerzen, fühlte, wie sich das verseuchte Blut in seinem Körper ausbreitete und nutzte die Zeit, um sich einen versteckten Ort zu suchen, wo er dann verrecken konnte. Doch er verstand die Situation. Er nahm seine Gedanken zusammen.
»Thoran, Vater ist im Krieg gefallen. Ich habe ihn dort begraben. Seine letzten Worte waren, dass ich dafür sorgen soll, dass du deinen Platz in der Welt findest.«
»Nun, Bruder, betrachte dieses Versprechen als eingelöst«, antwortete Thoran.
»Du hättest nachkommen sollen. Wir haben auf dich gewartet.«
»Ja.« Thoran zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Es gab keine Gelegenheit.«
»Zwei Jahre lang?«
»Nein. Aber weißt du, der Krieg war stets dein Traum, Neros, nicht meiner. Ich mag Frauen mehr als Schwerter. Ihre Vorzüge sind deutlich … greifbarer.« Thoran warf Irina einen langen Blick zu. Dann sah er wieder zu Neros, den Kopf leicht schief gehalten und mit einem süffisanten Lächeln in den Mundwinkeln. Irina hatte wenigstens den Anstand, beschämt zu Boden zu blicken. »Vielleicht hätte sich Vater mehr um dich sorgen müssen, Bruder. Offensichtlich bist du derjenige, der keinen Platz in dieser Welt mehr hat.«

[…]

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