Die Gespanne von Berkâs (Lesungsabenteuer)

Diese Geschichte entstand aus Ideen des Publikums bei der Lesung in der Chemnitzer Buchhandlung Lessing und Kompanie am 20. April 2023 sowie im KaffeeSatz Chemnitz am 1. Dezember 2023.


Der Versuch einer Aufarbeitung von Geschehnissen, die in der kleinen aquisteanischen Stadt Berkâs für Aufsehen, Kater und einen bemerkenswerten Erlass sorgten, und ein Blick auf das Wirken eines ungewöhnlichen Geschichtensammlers.

„Mit Einbruch der Dunkelheit hat jedes Rad in unserem friedlichen Ort stillzustehen.“ [Eintrag im Buch der Erlasse und Gesetze der Stadt Berkâs.]

Berkâs ist ein friedlicher Ort. Gelegen auf einem sonnenbeschienenen Hügel, in den Niederungen von kleinen Bächen mit frischem Wasser aus dem Anvali versorgt, umgeben von Wäldern, Weiden und Feldern und gänzlich fernab aller feindlichen Grenzen, ist die einzige Gefahr, die den Bewohnern droht, jene, die von ihnen selbst ausgeht. Den Menschen geht es gut, Fremden gegenüber zeigen sie sich aufgeschlossen, sie sind dem Handel nicht abgeneigt und haben sich im Allgemeinen einem umgänglichen Miteinander verschrieben.
Doch wirft jedes Licht einen Schatten, und so bleiben Gaunereien auch in Berkâs nicht aus. Stadtwachen und Friedenshüter geben ihr Bestes, aber man ist sich einig, dass eine zu starke Kontrolle den gemütlichen Einklang und die persönliche Freiheit, die man hier so kultiviert, auf eine Weise einschränken würde, die man nicht hinzunehmen gewillt ist. So kommt es, dass manches Unrecht ungesühnt bleibt oder aber ein Unglücklicher bestraft wird, dessen Unschuld – wenn überhaupt – erst viel zu spät festgestellt wird. So tragisch manches Schicksal damit erscheint, ist das doch der Preis, den die Menschen in Berkâs für ihre Harmonie zu zahlen bereit sind.

Eines Tages soll sich nun das Folgende zugetragen haben, wobei gleich zwei Umstände, die für sich genommen schon höchst unwahrscheinlich, in ihrem gemeinsamen Auftreten jedoch beinahe als unmöglich anzunehmen waren, aufeinandertrafen.
Der erste dieser Umstände betraf die Anwesenheit eines Mannes aus einem anderen Dorf, einem namenlosen Kutscher, der sich seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Menschen und ihr Habe von einem Ort zum anderen zu bringen. Zwar weilte dieser häufiger in Berkâs, doch dieses Mal aus einem besonderen Anlass: Bei einer seiner Fahrten war ihm ein Rad samt Achse gebrochen. Mit Mühe und Not und der Hilfe einiger großherzigen Bauern, die in der Nähe weilten, hatte er den Wagen bis in das nahegelegene Berkâs gebracht. Er fand einen Handwerker, der sich die Reparatur des Schadens zutraute – dem Kutscher bei näherer Besichtigung aber dann nahelegte, sich doch gleich ein neues Gefährt zuzulegen. Er zeigte ihm Stellen, an denen das Nagen des Zahns der Zeit bereits Spuren an seinem alten Gefährt hinterlassen hatte, und berichtete ihm von neuen Techniken, mit denen man heutzutage viel robustere und komfortablere Wagen zu fertigen verstand. Der Kutscher willigte nach einigem Hin und Her letztlich ein, denn die von dem charismatischen Meister auf so bildhafte Weise vorgebrachten Verlockungen gewannen die Oberhand über den reinen pragmatischen Verstand.
Der zweite Umstand betraf einen anderen Mann, der im Gegensatz zum Kutscher jedoch ein völlig Fremder in Berkâs war. Auf den ersten Blick nichts anderes als ein gewöhnlicher Reisender, der still und ohne Aufsehen zu erregen seiner Wege zog, bemerkte man auf den zweiten jedoch seinen wachsamen, argwöhnischen Blick, der ein inneres Feuer offenbarte, sowie ein großes, zerfleddertes Buch, das er bei sich trug. Man sah ihn, wie er bei Tage durch die Gassen zog, sich nach Namen erkundigte, sich in knappen Worten mit Menschen unterhielt, gelegentlich das örtliche Gefängnis besuchte und des Abends in den dunkelsten Ecken der Gasthäuser beim Licht einer einzelnen Kerze in sein Buch schrieb. Ein paar Tage weilte er im Ort und bald kam das Gerücht auf, dass er ein Geschichtensammler sei; einer, der die Wahrheit für die Unglücklichen aufschrieb, denen ein Unrecht widerfahren war. Seinen Namen gab er nie preis; und wenn doch, so ließ er sich auf die Schnelle einen einfallen, sodass bald Verwirrung darüber entstehen musste. Die Menschen von Berkâs fanden sich in ihrer wohlwollenden, gutmütigen Art damit ab und riefen ihn schließlich nur Den Chronisten. Dem Fremden war es, so schien es, einerlei.
Nun verliert alles, was in Regelmäßigkeit geschieht, irgendwann seinen Reiz, und so war es auch mit dem Treiben des Chronisten. Je länger er in Berkâs blieb, je öfter er mit den Gefangenen sprach, je mehr Fragen er den Menschen stellte: Jeder Argwohn verflog und bald erfuhr er alles, was er wissen wollte, und vermerkte es in seinem düsteren Buch. Beständig blieb allein das Feuer in seinen Augen sowie die Ausdauer, mit der er seinem Anliegen in ruhiger Beharrlichkeit nachging.
Eines Abends nun, und es war der jenes Tages, an dem der Kutscher sein neues Gefährt abzuholen nach Berkâs gekommen war, überschlugen sich die Ereignisse – und das in einem solchen Chaos, das man hinterher weder den genauen Ablauf noch die Umstände, die das Ganze erst ermöglicht hatten, mit Bestimmtheit feststellen konnte. Betrachtet man nur das, was man tatsächlich beobachten konnte, und das, was als unmittelbare Schlussfolgerung eindeutig und zweifelsfrei nachweisbar war, so ergibt sich die folgende Darstellung.
Der Kutscher holte am Nachmittag, wie vereinbart, sein neues Gefährt ab. Er geriet darüber so in Begeisterung, dass er den Handwerker kurzerhand in das Gasthaus einlud. Aus der kleinen Feier wurde eine große, aus dem einen Gast wurden viele, und bald war der halbe Ort in ausgelassener Stimmung. Das neue Gefährt stand vor dem Gasthaus und war bald der Mittelpunkt des Geschehens; die Menschen bemusterten es teilweise mit ehrlicher, teilweise übertriebener Euphorie, priesen den Kutscher und den Handwerker, schworen, sich selbst auch ein solches Gefährt zulegen zu wollen, spielten Musik, tanzten und sangen, soffen und fraßen – kurz: Es war eine ausschweifende Feier, über die auch ohne das Weitere noch Generationen später gesprochen worden wäre.
Das Weitere begann mit einem plötzlichen Regenguss. Hatte der Kutscher bis zu diesem Moment noch in aller Volltrunkenheit in Erwägung gezogen, den Heimweg antreten zu wollen, wurde er spätestens jetzt davon überzeugt, dass es im Gasthaus mit seinen neuen Freunden doch viel bequemer – und spaßiger – war. Am meisten Spaß hatte dabei der Wirt, das Geschäft seines Lebens witternd.
Die Feier wurde nun also im Gasthaus fortgesetzt. Es war bereits mitten in der Nacht und die ersten Gäste machten sich auf den Weg nach Hause und torkelten zu ihren Familien und dem eigenen Bett, sofern sie es denn fanden oder gar erreichten. Dem Treiben tat dies jedoch keinen Abbruch; man lärmte und feierte weiter, mit Sicherheit den Sonnenaufgang im Sinn, wenn er nicht so vernebelt gewesen wäre. Irgendwann entbrannte dann ein Wettstreit, dessen Ziel es war, für das neue Gefährt des Kutschers einen würdigen Namen zu finden. Ob es einen Gewinner gab, ist nicht überliefert, wohl aber, dass inmitten des tollen Geschehens der Wirt, selbst auch mit tiefroter Nase und triefendem Blick, auf einmal rief, dass der Kutscher an diesem Abend wohl so viele Münzen verprasst habe, dass es für einen zweiten Wagen gereicht hätte. Und dass er bereit sei, ihm die Schuld zu erlassen, wenn er ihm stattdessen das Gefährt, dessen bloße Existenz sie alle in solche Verzückung gestürzt hatte, vermachte.
Der Vorschlag und die Güte des Wirts wurde mit rauem, mehrkehligem Lachen beantwortet, denn es war einem jeden klar, dass der arme Kutscher wohl kaum noch genug Münzen besaß – auch dem Kutscher selbst, der, schlagartig nüchtern, nun erkannte, in welche Lage er sich gebracht hatte. Doch er lachte mit den anderen, stieß mit ihnen an, trank, stieß an, trank – und ersann in der Zwischenzeit wohl fieberhaft nach einem Ausweg aus seiner Schuld. Denn irgendwann kletterte er über die vielen Leiber, die sich selig vom Suff auf Bänken, Tischen und sogar dem Boden des Gasthauses wälzten, und trat vor die Tür, um sich das edle Gefährt noch einmal anzusehen, wie er behauptete. Dass dies wohl nur ein Vorwand war, war im Nachhinein nicht schwer zu erraten, doch seinen zweifelhaften Absichten rückten alsbald in den Hintergrund. Denn vor dem Gasthaus stand zwar noch sein Gefährt, doch musste der Kutscher plötzlich feststellen, dass es bereits ganz und gar in Beschlag genommen war!
Der Wagen war voller Gestalten. Wie viele, das konnte der Kutscher in der Dunkelheit wohl nicht sagen. Doch musste er erkannt haben, in welch traurigem Zustand sie waren; ob er daraus seine Schlüsse zog, sei dahingestellt. Der Wirt berichtete später, dass man ihn laut rufen hörte, Schreie der Verwunderung und des Protests, gefolgt von den Geräuschen eines kleinen Tumults und einer Rangelei. Als daraufhin die Gäste, die dazu noch imstande waren, vor die Tür eilten, um ihrem Gönner zu Hilfe zu kommen, war das einzige, was sie noch tun konnten, ihm hinterherzuschauen. Denn so wie sie die Tür öffneten, kam das Gefährt in Bewegung, auf dem Bock der Chronist, der dem Kutscher entweder aufsteigen helfen oder ihn genau daran hindern wollte. Möglicherweise waren die beiden in der kurzen Zeit zu einer Art Übereinkunft für eine gemeinsame Flucht gekommen, möglicherweise wollte der Kutscher den dreisten Diebstahl nicht einfach hinnehmen und klammerte sich deswegen an sein Gefährt und dessen Dieb. Jedenfalls entging er so der Zeche, um die er den Wirt nun brachte.
Man versuchte noch, das Gefährt zu verfolgen, und eine wilde Jagd entspann sich. Der Regen hatte den Boden aufgeweicht und die Wolken verhüllten das Licht des Mondes, sodass der von starken Pferden gezogene Wagen unkontrolliert über die Wege rutschte und rumpelte, mit Getöse gegen Häuserwände stieß, Zäune durchbrach und Gärten und Beete zerpflügte. Die Fliehenden hinterließen eine Schneise der Verwüstung, begleitet vom Geschrei und Gejohle der Leute aus dem Gasthaus und allen voran dem Wirt, der sich um seinen Reichtum betrogen sah. Doch die Flucht, sie glückte, und die Verfolger gaben sich geschlagen. Verschwunden war der prächtige Wagen, verschwunden der Kutscher und der Chronist, verschwunden einige der Männer und Frauen, die am vorigen Abend noch weggesperrt gewesen waren.

Noch am gleichen Tag begann das große, katergeplagte Aufräumen. Hier und da munkelte man hinter vorgehaltener Hand, dass einige der Schäden, die man offiziell der wilden Flucht zuschrieb, vielleicht auch von den Feierwütigen selbst verursacht worden waren, als diese auf dem Weg nach Hause nicht mehr Herr ihrer Sinne gewesen waren. Doch wie es auch um die Wahrheitheit stand: Es ließ sich weder aufklären noch ändern.
Den Kutscher sah man in Berkâs nie wieder, natürlich nicht; was aus ihm geworden ist, verliert sich im Dunkel jener Nacht. Und das gilt schließlich auch für den Chronisten. Nachforschungen haben wohl ergeben, dass er bereits an anderen Orten auf eine ähnliche Weise tätig geworden war, nämlich mit Gefangenen sprach, ihre Geschichten sammelte und ihnen da, wo es ihm möglich war, zu Gerechtigkeit verhalf. Für die Zeit nach dem Ausbruch von Berkâs findet sich jedoch kein Zeugnis davon. Vielleicht, und auch das ist kaum mehr als eine Mutmaßung, verlor seine Mission ihren Sinn, als er entgegen seinem innigsten Streben einem Schuldigen – dem Kutscher – zur Flucht verhalf.

Die Obrigen von Berkâs konnten dies indessen natürlich nicht auf sich beruhen lassen. Wenn man schon der Schuldigen nicht habhaft werden konnte, so wollte man doch wenigstens eine Wiederholung vermeiden. Und so entstand eine Reihe von Erlassen; manche sinnvoll, manche weniger, manche davon noch heute gültig, manche längst wieder abgeschafft. Einer hat sich jedoch beständig gehalten und weit über die Grenzen des Ortes herumgesprochen: Das Verbot, nach Einbruch der Dämmerung noch ein Gespann oder Gefährt durch Berkâs zu führen, zum Schutz von persönlicher Nachtruhe und Eigentum.

Das nun ist der Grund dafür, dass mit Einbruch der Dämmerung die Wege und Gassen in Berkâs mit Kutschen und Gespannen blockiert sind; ein Umstand, der immer mal wieder für Ärger sorgt, vor allem seit aus einem kleinen Dorf eine beschauliche Stadt mit vielen Reisenden und wohlhabenden Einwohnern geworden ist. Doch die Einwohner von Berkâs sind nun mal die Einwohner von Berkâs, und so kommt es, dass dieser Erlass weder hinterfragt noch abgeschafft wird. Stattdessen feiern sie in diesem bemerkenswerten Ort zweimal im Jahr ein großes Straßenfest, bei dem sie nicht nur ihre Häuser schmücken, sondern auch alle Kutschen und Gespanne sowie ihre Pferde, Esel und Ochsen, die diese Gefährte ziehen.