Das Mädchen und sein Traum vom Meer (Lesungsabenteuer)

Diese Geschichte entstand aus Ideen des Publikums bei der Lesung im KaffeeSatz Chemnitz am 2. September 2022.


Ein Märchen über ein Mädchen, das vom Meer träumt und von den Ewigen auf eine wundersame Reise geschickt wird.

„Ich sehe ein Pferd mit einem Horn, und es galoppiert über die See, in der zwei Monde sich spiegeln. Das Ende wird kommen, und fürchterliche Gestalten werden diese Welt zu ihrer machen. Warte nur, mein Kind, und meide das Meer! Rote Fische für die See, rote Fische für die Stadt.“ [Warnungen eines alten Wanderers.]

Das Mädchen Nira war etwas Besonderes. Sie hatte ein großes Herz und einen raschen Verstand, war findig und einfallsreich und von einem freundlichen und hilfsbereiten Schlag. Die Menschen, die sie kannten, sagten über sie: Nira ist gesegnet, sie hat eine Gabe! Und was sie meinten war, dass Nira in ihrem roten Kleid und dem schwarzen Umhang, obwohl sie noch so jung war, für jedes Problem und jede Not, von der sie hörte, eine Lösung oder eine Linderung fand. Sogar die Ewigen schlossen sie in ihr Herz, denn sie schenkten ihr ein Tuch, das, wenn Nira es in den Wind hielt, sie in die hohen Lüfte hob und an einen Ort trug, an dem jemand Hilfe suchte. Und jedes Mal, wenn sie so auf die Reise ging, hoffte das Mädchen, dass der Wind sie zur Küste tragen würde, denn das Meer hatte sie noch nie gesehen und nichts wünschte sie sich mehr.

Eines Tages wollten es die Götter, dass Nira einen Jungen traf. Er weinte, denn er hatte keine Freunde und fühlte sich allein. Niras Herz öffnete sich und sie tröstete den Jungen, und als sein Schluchzen leiser wurde, hörte sie ein wildes Fauchen. Zusammen mit dem Jungen machte sich Nira auf die Suche nach dem Tier, das so um Hilfe rief. Bald schon fanden sie ein wildes Fohlen, das in eine der Fallen geraten war, die die Dorfbewohner wegen der Wölfe und Bären aufgestellt hatten.
Nira zeigte dem Jungen, wie er das kleine Pferd retten und es pflegen konnte, und als es sich erholt hatte, ließ es Nira und den Jungen auf seinem Rücken reiten. Gemeinsam erkundeten sie die aquisteanischen Wälder, die Wiesen und Lichtungen mit bunten Blumen, aßen saure Äpfel und süße Beeren und wurden Freunde. Nira war sich sicher, dass sie nun auch bald das Meer finden würden, so schnell galoppierten sie über das Land, und gerade als sie dies dachte, fuhr der Wind in ihr Tuch und trug sie von dem Jungen und seinem Freund, dem Pferd, davon.

Nira flog weder weit noch lang, doch die Welt lag unter ihr im Nebel, sodass sie nicht nach dem Meer Ausschau halten konnte. Als ihre Füße wieder den Boden erreichten, war sie enttäuscht, doch nicht verzagt, und traf so auf einen alten Mann, der mit schäbiger Robe und einem langen Stab auf Wanderschaft war. Sie hörte ihn leise vor sich hin murmeln und spitzte die Ohren. Er erzählte ein Schauermärchen; von einem zweiten Mond, der am Himmel erscheinen und mit dem alten zusammenprallen würde, woraufhin die Gezeiten aus ihrem Gleichgewicht gerissen würden und eine gewaltige Sturmflut die Küstenlande von Kreonien und Wargund verschlingen musste.
Das Meer – der Wanderer musste es kennen, und so ging Nira auf ihn zu und fragte ihn, ob er den Weg dorthin kenne. Doch der alte Mann sah sie nur mit angsterfülltem Blick an und beschwor sie, das Reich des Wassers zu meiden und ihm so fern zu bleiben, wie sie nur konnte. Nira bekam Mitleid mit dem Wanderer, der so von seiner Angst erfüllt war, dass er an nichts anderes denken und glauben konnte. Und so nahm sie ihn an der Hand und ging ein Stück des Weges mit ihm, hörte ihm zu, bereitete ihm ein weiches Lager aus Blättern für die Nacht, entfachte ein wärmendes Feuer und schaffte es, dass der Geist des alten Mannes zur Ruhe fand, seine Angst sich legte und er in friedlichen Schlaf – seit Langem das erste Mal – sich fallen lassen konnte. Und als dann der Morgen dämmerte und Nira sich darauf freute, mit ihm über den Weg zum Meer sprechen zu können, stellte sie doch fest, dass der friedliche Schlaf nun ein ewiger geworden war und er nimmer mehr zu fürchten brauchte, dass ein zweiter Mond für Unheil sorgen würde.

Enttäuscht, aber in gleicher Weise doch versöhnt, wartete Nira auf den Wind, der den Nebel vertreiben würde, und als er schließlich kam, ließ sie sich bereitwillig von ihm in ein anderes Land geleiten. Er brachte sie direkt an den Hofe eines Königs, als dort gerade ein großes Fest stattfand. Eine in edlen Gewändern gekleidete Dame mit zu einem Turm gebundenen Haaren sang eine traurige Ballade. Der gesamte Hofstaat schwelgte dahin und ließ sich von der Darbietung zu Tränen rühren, sodass Nira es nicht wagte, jemanden nach dem Ort zu fragen, an den es sie verschlagen hatte. Stattdessen hörte sie der Sängerin zu und ließ sich in ihren Bann ziehen, als sie sah, wie die Frau ihr Lied am höchsten und lautesten Ton abbrach und auf ihre Knie herab sank.
Das Publikum hielt dies für einen theatralischen Teil der Vorstellung, doch Nira wusste es besser und bahnte sich einen Weg durch die vielen bunt gekleideten, von süßen Düften umhüllten Leiber, bis sie zu der Künstlerin gelangte, die ganz blass um ihre Nase geworden war. Der Zeremonienmeister wollte nun das Publikum mit etwas anderem unterhalten, da er der Meinung war, die alternde Sängerin sei zu schwach für das große Finale ihres Stücks. Doch Nira sah ein Flehen in den Augen der Frau und wusste plötzlich, was zu tun war. Sie bat eine Wache, die ganz in der Nähe stand, die Frau zu stützen, während sie hinter sie trat, um die Schnüre ihres viel zu eng gehaltenen Gewandes zu lockern. Die Frau, den Atem endlich wieder befreit, dankte es dem Mädchen mit einem glücklichen Lächeln und gab dem Zeremonienmeister dann das Zeichen, das sie fortfahren wolle. Ruhe kehrte in den Saal ein und die Sängerin sang, wie nur eine Frau singen kann, die in ihrem Leben vieles, alles erlebt hat, mit einer Leidenschaft, die ein jedes Herz berührte, einer Inbrunst, die magisch war. Und als ihr Lied dann zu seinem Ende kam und Nira sich umzuschauen begann, wen sie wohl nach dem Meer nun fragen konnte, da entfesselte der tosende Applaus eine Woge des Sturms, die Niras Tuch füllte und sie erneut von dannen trug.

Erneut war Nira lange, lange, lange Zeit unterwegs. Einmal flog sie über eine Stadt, in der Wachen hektisch und mit besorgten Mienen durch die Straßen rannten. Sie fragte einen der Männer, was hier geschehen sei, und erfuhr, dass ein Mörder es auf die Armen und Schwachen abgesehen habe. Sie solle bloß weiterziehen, denn helfen könne sie hier nicht, und als hätten die Ewigen das gehört, hoben sie Nira wieder in die Höhe, bevor der erste ihrer Füße das Pflaster der Stadt berühren konnte.

So kam sie dann nach Calea, und sie wusste, dass es Calea war, denn die Menschen, die sie erspähte, waren reich und lebten in prächtigen Häusern. Vor einem dieser Häuser traf sie einen Mann, dessen Name Melherion war, und er stellte sich vor als der Sohn von Gran, dem Meister der Königlichen Münze. Und obwohl er alles hatte, was man sich von Geld kaufen konnte, war er unglücklich, das sah Nira ihm an.
Und so schlug sie ihm ein Spiel vor. Einen Tag lang sollte er mit nichts, als er am Leibe trug, in die Wälder abseits der bequemen Handelsstraßen gehen, einen Tag lang versuchen, Wasser und Nahrung zu finden, ein Feuer zu entfachen und einen Unterschlupf für die Nacht zu finden. Melherion lehnte zunächst ab, denn etwas, wofür er kein Geld ausgeben musste, erschien seiner Aufmerksamkeit nicht würdig zu sein. Doch Nira bot ihm an, ihn bei diesem Spiel zu begleiten, wenn er ihr im Gegenzug dabei half, zum Meer zu gelangen. Das war ein Handel nach Melherions Sinn, denn er gedachte, einen Führer für das seltsame Mädchen zu bezahlen, der es dann zum nächsten Flusshafen und von da schließlich mit einem Schiff zum Meer bringen würde. Fröhlich zogen die beiden dann in den Wald, fanden eine Höhle, aus der ein kleiner Bach sprudelte, und vor ihr reichlich Brennholz. Zu essen fanden sie nichts, doch das störte Melherion nicht, denn so fand er eine Sache, die sich nicht seinem Willen beugen wollte. Und vielleicht war es der in dieser Nacht leere Magen, der Melherion dazu brachte, am nächsten Tag zu einer Wanderschaft durch die Welt aufzubrechen, auf die er nichts mitnahm außer Neugier und Zuversicht.
Nira jedoch blieb zurück, ohne Führer zum Meer und ohne Wissen, in welche Richtung sie sich denn überhaupt wenden musste, um zu ihm zu gelangen. Doch Melherion hatte verstanden, dass Gold und Reichtum nicht alles ist, im Gegenteil, dass es vielleicht sogar davon ablenkte, was alles war. Und so nahm Nira es mit einem Lächeln hin, dass der Wind sie holte und wieder mit sich nahm.

Der nächste, den Nira traf, war ein schüchterner, von den Ewigen nicht mit Schönheit gesegneter Mann, dessen Name Phylip war. Sie fand ihn in der hintersten Ecke einer dunklen Schenke, und er klagte ihr sein Leid. Singen konnte er und Geschichten erzählen wie kaum ein anderer, doch niemand wolle ihm zuhören, da sein Äußeres so anders war. Verstoßen und verlacht war er der Verzweiflung nahe, doch Nira wusste, dass das Gesehene oft genug nur eine Frage der Augen war, die man darauf richtete. Sie schlug ihm vor, nach Talenten zu forschen, die mehr zu seinem Antlitz passen mochten – wie das Handwerk eines wundersamen Mystikers, der die Zukunft vorauszusagen vermochte. Phylip erinnerte sich da an ein dunkles, braunes Pulver, das man mit heißem Wasser übergießen konnte, um es in einen belebenden Trank zu verwandeln. Dieses Pulver, das solch bemerkenswerte Wunder zu vollbringen vermochte, musste doch geeignet sein, um mit kundigem Auge aus ihm etwas über das Gestern und Heute, vor allem aber das Morgen zu erfahren.
Nira nickte zustimmend und ermunterte ihn, es gleich doch zu versuchen. Und so stellte sie ihm endlich die Frage, wie sie wohl ans Meer gelangen konnte. Der Zukunftsseher Phylip starrte eine Weile auf den braunen Schlick, zu dem das Pulver geworden war, nachdem man es mit Wasser in Berührung gebracht hatte. Schließlich runzelte er die Stirn und kam zu dem Schluss, dass Nira auf ihre Frage eine Antwort bekommen würde, sobald sie damit aufhöre, sie zu stellen.

Nun wusste Nira nicht, was sie davon halten sollte, und ihr Glaube an die Ewigen geriet umso mehr ins Wanken, als der Wind sie nun nach Litona trug. Ausgerechnet Litona, dem Land, in dem Jagur, der Wissende, alles Wissen der Menschen hütete. Hier nun sollte sie keine Frage stellen dürfen. Oder hatte Phylip sich geirrt?
Darüber nachzudenken, dazu blieb Nira keine Zeit, denn zu ihrem Schrecken warf der Wind sie über einem Schlachtfeld ab, auf dem ein Kampf soeben erst entschieden worden war. In all dem Leid um sie herum fing ihr Blick den eines Mannes ein, bei dem die Ewigen wohl noch nicht entschieden hatten, ob sie ihn zu sich rufen oder noch eine Zeit unter den Lebenden gewähren würden. Sie ging zu ihm und fragte ihn nach seinem Namen, nicht jedoch nach dem Weg zum Meer, und lauschte seiner schwachen Stimme, die ihn als den Schuhmacher Sigurd vorstellte. Eines Verbrechens hatte man ihn beschuldigt, und um seine Schuld zu sühnen, hatte man ihn in den Kampf geschickt, bevor er einem Rechtssprecher seine Verteidigung hatte vortragen können. Und hier lag er nun, allein und zum Sterben zurückgelassen, ohne jeden Glauben an das Gute im Menschen.
Da setzte sich Nira an seine Seite und erzählte ihm von ihrer wundersamen Reise, und als er es hören wollte, auch von ihrem Traum vom Meer und wie sie es sich vorstellte und dass sie es wohl nie mit eigenen Augen sehen werde. Da schöpfte Sigurd Mut, für sich und für Nira, und er fand die Kraft, aufzustehen und Nira auf die Beine zu helfen. Gemeinsam kehrten sie ins Lager zurück, in dem die Soldaten sich nach dem Kampf nun sammelten. Nira übergab Sigurd hier an einen der Heiler, der sich bei ihr bedankte und sie im gleichen Atemzug warnte, sich vor dem in Acht zu nehmen, der sich Milosch nannte.
Milosch, das war ein Heiler, und zwar der, der von allen am lautesten schrie. Man hatte ihn auf eine Pritsche gefesselt und Nira blieb das rote Tuch nicht verborgen, das man um seinen Kopf gewickelt hatte. Doch es waren keine Schreie des Schmerzes, sondern der Wut und des Frusts, und als Nira es gelang, die Silben zwischen den Schreien zu Worten zusammenzusetzen, hörte sie, wie er davon sprach, dass das große Reich Massalon nur danach strebe, Friede und Harmonie in den Herzen der Menschen zu stiften und sie nur deswegen immer wieder angreife, weil die Menschen in Litona schlecht seien. Sein Bein aus Holz hätte ihm dies offenbart, und dieses Holzbein spreche zu ihm, seit er sein richtiges, nutzloses im Kampfe gegen Massalon verloren hatte. Und dieses Holzbein sei klüger und schlauer als alle hier zusammen.
Nira hatte Mitleid mit dem fehlgeleiteten Geist des Mannes, und das umso mehr, als einer der anderen Heiler zu ihm ging und ihm ein Kraut in den Mund steckte, das ihn augenblicklich verstummen ließ. Sie begann, um das Leben des Mannes zu bangen, doch war dies auch der Moment, als ein weiterer Heiler an sie heran trat und um ihr Tuch bat. Der Kampf war grausam gewesen, und so waren es auch die Wunden der Männer, und ihnen ging das Leinen zum Verbinden aus.
Nira zögerte kurz, stellte dann jedoch fest, dass das Tuch sie weit getragen hatte, doch nie zum Meer hin, und dass es nun an der Zeit war, dass sie nicht mehr nur dem Willen der Götter folgen wollte. Sie gab dem Heiler das Tuch, der es in viele Stücke und Bänder zerschnitt, und suchte schließlich einen Weg aus dem Lager heraus.

Sie fand ihn und folgte ihm viele, viele Jahre lang. Sie traf Menschen, denen sie half, und sie traf Menschen, denen sie nicht helfen konnte, so sehr sie es auch wollte. Wenn sie selbst einmal in Not geriet, so fand sie meistens einen anderen, der ihr dann half. Und wenn nicht, so überstand sie es trotzdem.
Dann, eines Tages, erreichte Nira eine steile Klippe, unter der sich plötzlich das große, weite, blaue Meer vor ihr ausbreitete. Sie hatte es also doch gefunden, sah und roch und spürte es mit allen Sinnen. Sie folgte der Küste, ließ das Wasser ihre Füße im Sand umspülen, und stellte plötzlich fest, dass egal in welche Richtung sie lief, der Wind stets vom Meer her wehte. Zorn kam in ihr auf, denn die Ewigen hatten gewusst, wonach sie sich sehnte, und ihr trotzdem das Tuch gegeben, das ja gar nicht anders gekonnt hatte, als sie von eben diesem Sehnen immer weiter zu entfernen. Mit einem Mal war sie froh darüber und stolz darauf, das Tuch einst weggeben zu haben, denn dies war ihr nun klar: Ab diesem Moment war sie nicht mehr ein Spielzeug der Ewigen gewesen.
Und gerade, als sie ihren Frieden in diesem Trotz finden wollte, verstand Nira doch, dass es am Ende die Ewigen gewesen waren, die sie im Lager der Heiler, dem Ort ihrer schieren Ohnmacht, dazu gebracht hatten, sich von ihrem göttlichen Willen loszusagen – und den eigenen zu finden.