Aquistea,
im neunzigsten Jahr des vierten Zeitalters, während der Strafexpedition der Vereinigten Königreiche des Nordens gegen die Barbaren im Westen, wo man versuchte, den Wohlstand der Heimat zu verteidigen, obwohl er gar nicht in Gefahr war.
***
Er war ein Glückspilz. Es musste so sein, dessen war er sich sicher, und er hatte sich das Glück auch verdient. Und wie er das hatte. Keiner mehr als er; allein schon wegen der langen Zeit, die er auf das Ende der ewigen Nackenschläge, Enttäuschungen und Erniedrigungen hatte warten müssen. Die Ewigen brachten immer alles wieder ins Lot, das wusste er, und er hatte sich das auch ganz brav immer wieder eingeredet, während er den Glauben daran – also an das Gerechtigkeitsgefühl der Ewigen, nicht an die Ewigen selbst – verloren hatte. Natürlich nur vorübergehend, das sahen ihm die Ewigen sicher nach. Sie hatten ja gesehen, wie es ihm ergangen war, seit sein bester Freund mit dessen Vater in den Krieg gezogen war. Doch nun hatte sich das Blatt gewendet. Es gab keinen Grund mehr, Trübsal zu blasen. Angos grinste fröhlich. Dieser Triumph würde ihm nicht nur einen vollen Magen und ein paar warme Worte bescheren, oh nein, bei Weitem nicht. Ha!
Dabei hatte der Tag gar nicht so gut angefangen. Der Frühling hatte in den letzten Tagen jeden Zweifel daran, dass er den Winter endgültig bezwungen hatte, mit warmen Brisen, frisch aufkeimendem Grün und enthusiastischem Vogelgezwitscher in die Flucht geschlagen. Doch in der Nacht hatte der Frost sich einen letzten Schlag erlaubt, wie ein Bär, den man in seiner Höhle in die Enge getrieben hatte und der nun in Raserei verfiel, um sich entweder freizukämpfen oder wenigstens seine Jäger gleichsam mit ins Ewige Reich zu nehmen. Das hieß: Kamen Tiere eigentlich auch mit vor die Ewigen, wenn ihr Leben endete? Angos runzelte die Stirn. Ein wunderlicher Gedanke. Ihm fiel keine Antwort darauf ein. Aber das machte auch nicht viel, denn eigentlich wollte er sich gerade in seinem Glück sonnen, und das war umso erhebender, wenn er sich vorher all das Leid vergegenwärtigte, das ihm auf dem Weg hierher widerfahren war. Wo war er stehengeblieben? Ach ja, der Frost.
Der war also zurückgekehrt. Mitten in der Nacht, während Angos friedlich schlief. Ohne den wärmenden Schnaps vom Abend in den Adern wäre er sicher erfroren. Dass er ohne den Schnaps vielleicht auch aufgewacht wäre, um sich zuzudecken, zählte nicht. So war er also kalt und steif und mit Raureif in den roten Locken aufgewacht, lange bevor die Sonne der kalten Heimtücke Gerechtigkeit widerfahren lassen konnte. Murrend und durstig war er aufgestanden, fand seinen Wasservorrat gefroren, den am Tag zuvor schon harten Kanten Brot noch härter, sein lumpiges Habe zerstreut und unordentlich und eigentlich war alles so schlimm wie jeden Morgen in seiner kleinen, windigen Hütte am äußersten Rand des Dorfes, das seiner Sägemühle den Namen Kiefernhain verdankte. Der Sägemühle und natürlich den Bäumen, die es in einem dichten Wald in den Ausläufern des Anvali verbargen.
Als er dann versuchte, ein kleines Feuer zu entfachen, waren ihm gleich beim ersten Versuch die tauben Finger zwischen Feuerstein und Stahl geraten. Also ließ er es wieder sein. Und in dem Wissen, dass es vermutlich überall auf der Welt besser war als in seiner dreimal verfluchten Hütte, machte er sich auf den Weg zu seiner üblichen Runde. Immerhin: Der gefrorene Boden machte das Laufen leicht und die kalte Luft vertrieb das Brummen und Drücken aus seinem verkaterten Schädel. Jeder Schritt, der ihn vom Dorf wegführte, hob seine Laune an, bis er zum Takt seiner harsch knackenden Schritte eine leise Melodie zu pfeifen begann. Mit den ersten Sonnenstrahlen, die durch die Dämmerung schnitten, erwachten schließlich auch die Waldbewohner und stimmten in sein Liedchen mit ein, während Frost und Schatten in dünnen Nebelschwaden, die vom Boden aufstiegen, zerflossen und die erdigen, satten Farben des Waldes, die Angos so sehr liebte, freigaben.
Sein Weg war gar kein richtiger Weg. Er war bestenfalls im Ansatz als Pfad zu erkennen, und das auch nur, wenn man Angos hieß und auf die Markierungen achtete, die er zu diesem Zweck angelegt hatte: in Baumstämme geritzte Zeichen, kleine Türme aus Steinen, in den Boden gerammte Stöcke. Er führte in verschiedenen Kreisen rund um das Dorf; auf manchen war Angos einen halben Tag unterwegs, auf manchen eine ganze Woche – oder mehr, wenn er sich dazu entschloss. Dieser geheime Pfad verband die verschiedensten Orte, die alle jedoch eines gemein hatten: Angos hatte an ihnen Fallen ausgelegt. Da waren zum Beispiel Schlingfallen im Schilf eines kleinen Sees, um Enten zu fangen, Klappfallen vor den Eingängen von Kaninchenbauen oder aber Grubenfallen, manche sogar mit angespitzten Pfählen am Grund. Und auch, wenn er die hinterhältige Grausamkeit der letzteren nicht mochte, so stand er in diesem Moment vor eben einer solchen und freute sich, dass die Ewigen – oder wenigstens die Sonne – milde auf ihn herablächelten und ihn sich seines Jagdglücks erfreuen ließen.
Ein Reh und ein Wolf. Angos stemmte die Arme in die Hüfte. Ein wirklich interessanter Fang. Ungewöhnlich, vor allen Dingen. Vermutlich hatte ein Wolfsrudel Jagd auf das Reh gemacht, das dann durch das dünne Blatt- und Zweigwerk gebrochen war, welches die angespitzten Pfähle verbarg. Der Wolf hatte ihm dabei wohl schon fast an den Fesseln gehangen, sodass er mit ihm zusammen einbrach und –
»Ja, war wohl kein schönes Ende«, murmelte Angos. »Kam bestimmt überraschend, hm? Gerade noch auf der wild’n Jagd, die Fänge schon fast im warmen Fleisch, und dann gibt der Boden nach. Hoffe, du musstest nich leiden, Kumpel. Und du auch nich, Reh. Hm. Für dich war es vielleicht sogar besser so, hm? Lieber ’n schnelles Ende mit den Pfählen, als von der Meute zerrissen zu werden. Ja, das denk ich mir. Ging bestimmt schnell. Ein kurzer, reißender Schmerz, und dann aus die Maus, nich wahr? Na dann wollen wir mal.« Angos’ Hochgefühl ebbte ab, während er vorsichtig in die Grube kletterte. Ein Klos bildete sich in seinem Hals, als er auf die zwei bedauernswerten Geschöpfe sah, und so plapperte er weiter. »Wär gut, wenn jetzt Neros hier wär. Jaja, aber der muss sich ja mit den Barbaren rumärgern. Köpfe einschlagen, sowas nutzloses. Könnte mir stattdessen helfen, euch hier aus dem Loch zu holen, bevor ihr verwest. Das wäre nämlich auch nutzlos. Ist mir nich egal, was mit euch passiert ist, das könnt ihr mir glauben. Der Angos is ein oller Wilddieb, stimmt schon, aber nur weil ich ja auch schauen muss, wo ich bleibe. Eigentlich bin ich sowas wie ein Wolf, wisst ihr ...« Vorsichtig und mit großer Mühe zog er den Wolf von den Pfählen. Sein Leib war nicht mehr warm, aber auch noch nicht steif. Das war gut für alles, was er später noch damit tun musste, aber schlecht, um ihn überhaupt erstmal aus der Grube herauszubekommen. »Ein Wolf, aber halt einer ohne Rudel. Einen Alpha hab’ ich, das ist der Neros, aber der ist ja gerade nicht da, um seinem Freund, dem Wilddieb, zu helfen.« Mit einer letzten großen Anstrengung brachte Angos den Wolf über den Rand der Grube. »Aber macht nichts, ich krieg’ das schon hin, nich wahr? Ich kümmere mich um euch beide. So, jetzt bist du dran.« Angos wandte sich dem Reh zu und begann das Prozedere, um das Fleisch von den Pfählen zu lösen. »Wisst ihr, da wir unter uns sind, kann ich es euch ja sagen. Ihr Tiere, ihr Waldbewohner, ihr seid immer gut zu mir. Ehrlich, hab’ noch keinen von euch getroffen, der mich schlecht oder sonstwie behandelt hätte. Wir sind nich immer Freunde, das muss ich sagen, und ihr wisst ja, was ich meine. Aber gleiches Recht für alle, sag’ ich mal. Der Angos hat bisher immer Glück gehabt. Aber er würde es euch nicht übelnehmen, wenn ihr euch nachts in seine klapprige Hütte schleicht und ihn kalt macht. Ihr macht es ja, weil ihr Hunger habt. So wie ich gerade. Nicht so, wie die anderen Zweibeiner. Die haben Spaß am Umbringen. Übel, oder? Aber so einer bin ich nich. Ehrlich, könnt ich’s mir aussuchen, dann wär ich wohl einer von euch. Und wer weiß, vielleicht kommt’s ja noch so? Weil wenn der Neros nicht wiederkommt, dann gibt’s sowieso niemanden mehr, mit dem ich mich abgeben will. Muss nur erst noch rausfinden, wie man Schnaps brennt, dann hält mich nichts mehr bei dem Pack!« Und damit warf Angos auch das Reh über den Rand der Grube.
Als er selbst herausgeklettert war, schaute er stirnrunzelnd auf die beiden Tiere. Und nun? Wie sollte er seine Beute ins Dorf bringen? Einen von beiden hätte er vielleicht schultern können. Zwei waren jedoch zu schwer. Sein Blick fiel auf einen tiefhängenden, ausladenden Ast einer Tanne. Er legte den Kopf schief, maß mit den Augen den Wolf und das Reh, und grinste dann. Die Ewigen meinten es heute wirklich gut mit ihm. Sie schenkten ihm nicht nur ein Reh und ein Wolf, sondern auch gute Ideen. Und so machte er sich ans Werk, holte sich ein paar Kratzer, als er den überraschend widerspenstigen Ast vom Stamm brach, und machte aus ihm einen behelfsmäßigen Schlitten, auf dem er die beiden Tiere festbinden und hinter sich her schleifen konnte.
Mühselig war der Weg zurück nach Kiefernhain dennoch, denn Angos stellte bald fest, dass seine Improvisation in seinem Kopf robuster und stabiler war als in der wirklichen Umsetzung. Immer wieder musste er anhalten und nachbessern, doch lohnten die Ewigen es ihm mit zwei Kaninchen, die er aus Fallen entlang seines Weges holte. Kurz hatte er überlegt, sie freizulassen und demütig auf die bisherigen Geschenke der Ewigen zu schauen. Doch dann hatte er sich an die letzten Tage, Wochen, Monde, Jahre erinnert und mit den Schultern gezuckt. Wer sagte denn, dass die beiden Kaninchen nicht Teil des Geschenks waren?
Denn eines war sicher: Angos hatte es sich verdammt nochmal verdient, nich wahr?
[...]
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