Heratien,
im einhundertdreiundvierzigsten Jahr des vierten Zeitalters, während sich die westlichen Königreiche von der Verwüstung durch Ranroths Barbaren erholten und ein Bürgerkrieg Aquistea zu entzweien drohte.
***
Die Männer zögerten. Man sah ihnen an, dass sie verunsichert waren. Sie warfen einander fragende Blicke zu und spielten nervös mit den schartigen Schwertern und mit rostigen Nägeln bewehrten Knüppeln in ihren Händen. Mit Gegenwehr hatten sie wohl nicht gerechnet, und offenbar war ihre Verzweiflung nicht so groß, als dass sie es unbedingt darauf ankommen lassen wollten.
Cari war in Versuchung, die Männer genauer zu mustern und in ihren Gesichtern und ihrer Kleidung nach Hinweisen auf die Frage zu suchen, was sie hatte zu dem werden lassen, was sie nun waren: dreckige, widerwärtige, bis ins hohe Reich der Ewigen stinkende Räuber. Diebe. Wegelagerer. Ein erbärmlicher Haufen von Versagern.
Doch das musste warten. Es machte für den Moment keinen Unterschied, warum sie sie überfielen. Das konnte sie ergründen, wenn das Ganze überstanden war. Jetzt gerade standen sie einander gegenüber wie zwei gegnerische Armeen, die auf den Angriffsbefehl warteten und noch nicht abschätzen konnten, welche Partei höher in der Gunst der Göttlichen stand.
Cari sah nach links, zu ihren halbstarken Brüdern Danneel und Jovan, die sich vor Selva, ihre Mutter, gestellt hatten, dann rechts zu ihren Vettern Hadrien und Gael, und schließlich zu Konnjar, ihrem Vater, der sich wie sie selbst zwei Schritte vor ihre Familie gestellt hatte. In seiner angespannten Miene arbeitete es. Sie wusste genau, worüber er nachdachte. Er hatte nicht vor, sich zu ergeben. Sie hatten selbst kaum noch etwas, und das wenige, das ihnen geblieben war, würden sie nicht einfach hergeben. Ihr Vater schien nur auf die richtige Gelegenheit zu warten, einen kleinen Zufall, der ihnen einen Vorteil verschaffen würde. Natürlich war die Situation bedrohlich. Doch sie hatten schon ganz andere erlebt, waren schon ganz anderen Gestalten begegnet. Caris Herz galoppierte wild unter ihrer Brust. Sie hatte Angst, aber sie war klar im Kopf und ihr Stand war fest. Sie war bereit, sich den Wegelagerern zu stellen, genauso wie der Rest ihrer Familie. Ein grimmiges Lächeln grub sich in ihre Mundwinkel.
Die Männer vor ihnen machten weiter keine Anstalten, ihrer hehren Forderung nach Wegzoll und der Androhung von Tod und Schändung Taten folgen zu lassen. Sieben waren es, genauso wie sie. Es gab einen, der ein wenig kürzer geraten war als die anderen. Cari schätzte, dass er ihr bis zur Nasenspitze reichte. Er musste der Anführer dieses zerlumpten Haufens sein, auch wenn er gerade nichts tat, was ihn dieser Rolle gerecht werden ließ. Immer wieder sahen die anderen zu ihm, doch die einzige Regung in seinem hässlichen Antlitz kam von den Schweißperlen, die dunkle Bahnen in den Dreck auf seiner Stirn zogen.
Langsam stieg Wut in Cari auf. Wenigstens waschen hätten sie sich können, bevor sie sie überfielen. Was fiel ihnen ein? Das war so ... respektlos. Wahrscheinlich hatten die Männer sie für leichte Beute gehalten, ein paar arglose Wanderer mit prallen Börsen und vollen Taschen, die sich schon beim Anblick bewaffneter Strolche in die Hosen machten. Doch diesen Fehler würden sie sehr schnell einsehen. Sie würden es noch bereuen, sich ihnen in den Weg gestellt zu haben, so hässlich und schmutzig und dumm und dreist. Unfähig und unwillens, ihren Zorn länger zu unterdrücken, überlegte Cari, wie sie den Göttern ein wenig unter die Arme greifen und selbst für eine Gelegenheit sorgen könnte. Ihr Vetter Hadrien schien indessen die gleichen Gedanken zu haben.
»Seht, da kommen sie!«, rief er laut und deutete auf einen Punkt hinter dem Abschaum. Ein paar der Männer fuhren tatsächlich herum, um nach der neuen Bedrohung zu schauen. Cari reagierte sofort, schnellte nach vorn, holte mit dem dicken Knüppel in ihren Händen aus und zog ihn dem erstbesten Kerl über den Hinterkopf.
Der Schlag traf auf keinen richtigen Widerstand, so unerwartet kam er für sein Ziel, und so drehte Cari sich um die halbe Achse und musste aufpassen, nicht selbst das Gleichgewicht zu verlieren. Instinktiv nutzte sie die Drehung, um erneut Schwung zu holen und blind in die andere Richtung zu schlagen, in der Hoffnung, den nächsten zu erwischen, bevor er sie traf. Und Idira war bei ihr. Ihr zweiter Schlag geriet nicht ganz so hoch wie der erste, aber das war gut so, denn so traf sie den Mann genau in seine Weichteile; ohne einen Laut von sich zu geben, sackte er nach vorne zusammen und fiel auf die Knie. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihm nun den Schädel zu zerschmettern.
Doch noch während Cari es in Betracht zog, kam der Kampf um sie schon wieder zum Erliegen. Es war kaum mehr als ein kurzes Scharmützel gewesen. Sie hatten die Räuber völlig überrumpelt. Zwei der Männer hatten vor Schreck die Beine in die Hand genommen und schlugen sich gerade ins Unterholz, zwei andere wanden und krümmten sich wimmernd im Dreck, einer kniete, die Hände mit schmerzverzerrtem Gesicht im Schritt vergraben, und einer lag so regungslos wie ein Sack voll nassem Sand vor ihnen auf der Straße. Dieser war Caris erstes Opfer gewesen. Nur der kleine Anführer stand noch auf den Beinen. Aus seiner Nase und dem rechten Mundwinkel tropfte Blut.
Jetzt hat er endlich einen Grund, sich zu waschen, dachte Cari mit grimmiger Befriedigung.
»Seht zu, dass ihr Land gewinnt«, warf ihm ihr Vater zu. Sein Tonfall war ruhig und unaufgeregt. Er deutete mit einer knappen Geste auf den Mann, der vor Cari lag. »Und nehmt den da mit.«
Dann wandte er sich um und ging. Einfach so, ohne einen weiteren Blick, ohne ein weiteres Wort. Cari jubilierte innerlich. Es war eine Geste des absoluten Sieges, der absoluten Demütigung: Er drehte ihren Gegnern furchtlos den Rücken zu.
»Lebt der noch?«, hörte sie den Anführer fragen. Ihr Vater drehte sich nicht einmal um, als er ihm antwortete.
»Was kümmert mich das? Schau selbst nach.«
Nach kurzer Zeit erreichten sie eine Lichtung. Der Weg führte am Waldesrand entlang, doch sie beschlossen, ihn hier für eine kurze Rast zu verlassen. Die Lichtung war ein Teppich aus sanft wiegenden Gräsern, hüfthohen Farnen, Nartasien und anderen bunt blühenden Wildblumen. Die Luft schwirrte vom Summen und Brummen der Käfer und Insekten, und wohin sie ihre Schritte auch lenkten, stiegen farbenfrohe Schmetterlinge in die Luft. Es war ein Ort, der in seiner Schönheit und seinem unschuldigen Frieden in komplettem Gegensatz zu dem stand, was sie soeben erlebt – und überlebt – hatten.
Sie waren zwar nicht weit gelaufen, aber Cari erschien es weit genug, um sicher sein zu können, dass es sich die Wegelagerer nicht anders überlegt hatten und ihnen nachgelaufen waren, um ihnen in den Rücken zu fallen. Nach dem Überschwang der Glücksgefühle und Erleichterung waren ihre Beine auf den letzten Schritten zittrig geworden, und vor ihrem inneren Auge erwachten Bilder von dem, was hätte sein können. Die abfallende Anspannung machte einer leichten Panik Platz; ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust wie der Hammer ihres Vaters auf einen Nagel, der sich nicht so recht ins Holz treiben lassen wollte. Sie schloss die Augen, um sich auf ihren Atem zu konzentrieren, doch noch vermochten die tiefen Atemzüge nicht die Oberhand über die Angst zu erlangen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie die Bäume, wie sie sich auf sie zu bewegten und mit ihren dicken Ästen wie mit Knüppeln ausholten, um sie zu erschlagen. Schnell schloss sie ihre Augen wieder.
Es ist gleich vorbei, versuchte Cari sich zu beruhigen. Es ist nur Angst, und Angst vergeht. Sie zwang die wandernden Bäume aus ihren Gedanken. Stattdessen rief sie sich die Bilder der Wegelagerer ins Gedächtnis, musterte jede Einzelheit ihrer schmutzigen Gesichter und widerwärtigen Gestalten, erinnerte sich an die Worte, die sie einander zugeworfen hatten, die Drohungen und Gesten, und durchlebte schließlich erneut den kurzen Kampf, spürte, wie ihr Knüppel auf den Kopf des einen und die Mitte des nächsten Räubers traf. Die Woge von Erleichterung und Genugtuung erfüllte sie erneut – schwächer zwar, aber reichte es doch, um ihren Geist zu beruhigen und wieder Herrin ihrer Sinne zu werden.
Als sie sich beruhigte, wurde sie auch wieder empfänglich für das, was sie in diesem Moment umgab. Und so spürte sie den Blick ihres Vaters auf sich ruhen. Sie holte ein letztes Mal tief Luft – und öffnete schließlich wieder die Augen. Die Bäume blieben da, wo sie hingehörten.
»Alles in Ordnung, Carlène?«, fragte ihr Vater sie.
»Ja, Konnjar«, antwortete sie mit einem kurzen Nicken. Dann lächelte sie, und ihr Vater antwortete mit einem breiten Grinsen. Und so fiel auch der letzte Rest Anspannung von ihnen ab und mündete in ein lautes Lachen, dem sich auch die anderen nicht verwehren konnten.
»Trotzdem war das dumm«, meinte ihre Mutter, als sie sich wieder beruhigten. Sie gab ihr Bestes, den Tadel ernst klingen zu lassen, doch fehlte es ihrer Stimme an Überzeugung. Hadrien reagierte mit einem nonchalanten Schulterzucken.
»Dass sie uns überfallen haben? Ja, das haben sie jetzt wohl auch verstanden«, entgegnete Cari an Stelle ihres Vetters, und um ihren Scherz noch zu verdeutlichen, verzog sie ihren Mund und schüttelte gleich darauf mit dem Kopf. Das hatte sie sich ebenso angewöhnt wie ihre Eltern bei ihren Vornamen anzusprechen. Sie fand, das grenzte sie ein wenig voneinander ab – insbesondere wenn Fremde um sie herum waren. Sie wollte nicht mehr nur als die Tochter von Konnjar, dem Baumeister gesehen werden.
»Nein, dass du so auf sie losgegangen bist, Carlène. Das war gefährlich.«
»Hadrien hat den Stein doch ins Rollen gebracht«, entgegnete Cari.
»Denke nicht, dass die eigentliche Gefahr von mir ausging«, pflichtete Hadrien ihr bei.
»Ihr wisst, was ich meine«, beharrte ihre Mutter.
»Wir würden immer noch da stehen und einander beäugen, wenn Hadrien nicht den ersten Schritt gemacht hätte«, meinte Cari. Es fiel ihr schwer, nicht mit den Augen zu rollen.
»Carlène!« Ihre Mutter warf ihr einen mahnenden Blick zu. Hatte sie unbeabsichtigt doch mit den Augen gerollt?
»Was? Es ist doch gut gegangen.«
»Ja, dieses Mal vielleicht. Aber das nächste Mal –«
»Nächstes Mal ist eh wieder alles anders«, sagte Hadrien. »Sollten lieber hoffen, dass es kein nächstes Mal gibt.«
»Das ist schon richtig. Aber wenn doch, dann möchte ich, dass ihr keine Dummheiten macht.«
»Es war nicht dumm«, antwortete Cari. Und dieses Mal rollte sie sehr bewusst mit den Augen. »Die hatten mehr Angst als wir.«
»Das glaube ich nicht, Carlène.«
»Doch. Dieser erbärmliche Haufen von Versagern war doch so abgemagert, dass sie kaum ihre Knüppel in der Hand halten konnten.«
»Ach Kind«, seufzte Selva. »Trotzdem hätten sie uns verletzen können.«
»Ich bin mir sicher, dass sie das sowieso vorhatten, Selva«, entgegnete Cari. Sie betonte den Namen ihrer Mutter, um ihrer Missbilligung Ausdruck zu verleihen. Sie mochte es nicht, belehrt zu werden – auch wenn sie verstand, worauf ihre Mutter hinaus wollte.
»Wir haben es überstanden«, mischte Konnjar sich schließlich ein. »Lasst es gut sein. Wir ruhen uns kurz aus. Dann weiter.«
Cari warf ihrer Mutter einen letzten versöhnlichen Blick zu und gab sich dann ihren Gedanken hin. Sie stellte sich schon die gleiche Frage wie zu Beginn des Kampfes: Was hatte die Männer wohl auf die Straße gebracht? Abschaum hin oder her, freiwillig hatten sie dieses Leben nicht gewählt. Mögliche Antworten darauf fand sie viele, und die meisten begannen mit der Verwüstung, die Ranroth mit seinen Barbaren über weite Teile von Saranien, Kreonien und Torant gebracht hatte. Viele Menschen waren dem zum Opfer gefallen, und auch zwei Jahre nach dem endgültigen Sieg über Ranroths Horde bei Opanit war das Leben in die zerstörten Landstriche noch nicht wieder zurückgekehrt. Von den wenigen Überlebenden hatten viele im Wald Zuflucht gesucht, da an das Bestellen der Felder, die sie ernähren sollten, kaum zu denken war. Zu groß war die Gefahr, von versprengten Barbaren oder anderen hungrigen Mäulern um den Lohn der Arbeit – und ums Leben – gebracht zu werden. Der Wald hingegen bot Schutz und Nahrung, auch wenn das bedeutete, zum Wilddieb werden zu müssen. Das war am Ende das geringere Übel. Es gab sowieso niemanden, der das Recht des Königs durchzusetzen vermochte.
Doch ohne Aussicht auf eine sichere Zukunft zog es nun immer mehr Menschen in die benachbarten Königreiche, um dort ein neues Leben aufzubauen. Das rief Wegelagerer auf den Plan, die den Flüchtlingen das abnahmen, was ihnen noch geblieben war – Flüchtlingen, wie sie selbst es waren.
Ihr Vater Konnjar war Baumeister, und während es in Saranien eigentlich viel wieder aufzubauen gab, fehlte es doch an Leuten, die dies beauftragten und vor allem bezahlten. Sie hatten von Bestrebungen gehört, die völlig dem Erdboden gleichgemachte Stadt Gjarbann von den verkohlten Grundmauern aus neu errichten zu wollen, doch Gjarbann lag inmitten des verwüsteten Niemandslandes in Saraniens Westen. Stattdessen nach Calea zu ziehen und in den aufblühenden Handelsstädten eine Arbeit zu suchen, die die Familie ernähren konnte, erschien ihnen aussichtsreicher. Und so hatten sie sich auf den langen Weg gemacht, nur mit einer groben Himmelsrichtung als Orientierung, und waren nun hier auf vermutlich halbem Weg mitten in Heratien.
Dabei waren sie als eine große Gruppe aufgebrochen. Als Konnjar den Vorschlag unterbreitet hatte, hatten sich ihnen zunächst ihre Vettern Gael und Hadrien angeschlossen. Beide hatten ihre Familien an die Barbaren oder an Hunger und Krankheit, die diesen auf den Fuß gefolgt waren, verloren. Was blieb ihnen also auch anderes übrig? Das galt insbesondere für Gael, der kaum mehr als ein Dutzend Sommer erlebt hatte. Hadrien hingegen war ein erwachsener Mann, der sich vor dem Krieg als Tischler verdingt hatte. Er hätte sicher auch alleine in Saranien bleiben können, doch Cari und er verstanden sich so gut, dass sie meinte, dass er vor allem ihretwegen eingewilligt hatte, mitzukommen.
Als sich dann herumsprach, dass sie nach Calea ziehen würden, erklärten sich noch gut zwei Dutzend anderer bereit, ihnen zu folgen, und so waren sie schließlich von einem Tag auf den nächsten aufgebrochen und hatten ihre alte Heimat hinter sich gelassen. Viel vorzubereiten hatte es nicht gegeben und der Abschied von ihrem alten Leben war den meisten sehr leicht gefallen.
Das war vor sechs Wochen gewesen, und dass von ihrer ursprünglichen Gruppe nur noch ihre eigene Familie übrig geblieben war, hatte unterschiedliche Gründe. Ein paar wenige hatten es sich nach den ersten Tagen anders überlegt und waren umgekehrt. Andere hatten sie in den Dörfern und Städten verlassen, die sie seit ihrem Aufbruch passiert hatten, um dort ihr Glück zu versuchen. Und manche waren auch gestorben. Dieser erbärmliche Haufen von dreckigen Versagern, der sie heute überfallen hatte, war nicht der erste gewesen, und die anderen Male waren sie nicht so gut auf einen Angriff vorbereitet gewesen. So waren letztlich nur sie sieben geblieben, doch Cari gab sich Mühe, das als gutes Zeichen zu sehen. Immerhin bestand auch die Ewige Familie aus sieben Mitgliedern.
Cari blickte von einem zum anderen. Konnjar war ein großer, für einen Handwerker ungewöhnlich schlanker Mann, den eine stete Aura des Tatendrangs umgab. Wenn er länger keine Aufgabe fand, mit der er sich die Zeit vertreiben konnte, begann er, sich immer wieder mit der Hand über das Gesicht zu fahren. Kratzte er dabei über seine Bartstoppeln, regte ihn das noch mehr auf – und fand dann meistens eine Beschäftigung, indem er sich rasierte. Cari wusste nicht warum, aber ihr Vater ertrug es nicht, einen Bart zu haben. Schade, denn der stand ihm eigentlich. Er ließ ihn verwegener aussehen.
Selva hingegen war ruhiger, aber deswegen nicht gleich ruhig. Ihre Mutter war eine großgewachsene Plaudertasche, die gerne viel fragte, viel erzählte und viel lachte. Aber sie konnte eben auch mal nichts tun. Von ihr hatte Cari die blonden Haare geerbt, und vielleicht auch ihr Interesse für ihre Mitmenschen. Sie fand zwar, dass ihre Mutter vor allem einfach neugierig war, während sie selbst gerne hinter die Fassade schaute und sich fragte, was ihr Gegenüber antrieb, doch trotzdem musste das als Gemeinsamkeit herhalten, denn ansonsten war die Liste nicht ganz so lang. Schlimm war das aber nicht. Im Gegenteil. Ihre Unterschiede ließen sie so immer etwas haben, worüber sie diskutieren konnten, und das war etwas, das Cari sehr schätzte.
Ihre Brüder waren äußerlich exakte Abbilder ihres Vaters – nur in verschiedenen Entwicklungsstadien. Danneel und Jovan waren beide jünger als sie. Danneel und sie trennten vier Sommer, Jovan noch zwei mehr. Gerade Danneel war dabei der Meinung, schon ein erwachsener Mann zu sein, und Jovan sah sich so dazu angetrieben, seinem Bruder in Nichts nachzustehen – aber Cari wusste es besser. Beide waren noch Kinder, und wahrscheinlich würden sie es in ihren Augen auch immer bleiben. Das ließ sie den beiden gegenüber auch gerne mal durchblicken. Am Ende war es auch zu ihrem Besten. Wenn sie sich schon nicht gegen ihre Schwester durchsetzen konnten, wie wollten sie sich dann in der Welt behaupten?
Hadrien war da ganz anders. Auch ihm sah man an, dass er zur Familie gehörte; sie waren überhaupt alle sehr groß. Das schloss sie selbst mit ein. Im Gegensatz zu den anderen ihrer Familie war Hadrien aber oft in sich gekehrt und beobachtete viel, ohne es zu kommentieren. Wenn er etwas tat oder sagte, so hatte Cari den Eindruck, dass er davon überzeugt war und sich sicher in dem war, was er anpackte. Bei ihm wusste Cari, dass er auch gut alleine zurechtkommen würde. Er war bei ihnen, weil er es wollte, nicht, weil er es musste. Und er und ihr Vater arbeiteten hervorragend Hand in Hand. Cari war sehr glücklich gewesen, als er zugestimmt hatte, sie nach Calea zu begleiten. Es machte ihre Chancen, dort anzukommen, wesentlich besser – und die lange Reise sehr viel angenehmer.
Und dann war da noch Gael, der kleine Sohn von Konnjars Schwester. Er war nicht nur der jüngste von ihnen allen, sondern auch der stillste. Nicht auf so eine in sich ruhende Art, wie sie Hadrien an sich hatte, sondern auf eine traurige, verlorene Art. Cari verbrachte viel Zeit mit ihm, versuchte, ihn aus seiner Einsamkeit zu holen, ihm Dinge zu zeigen und zu erklären, mit ihm zu reden und zu schweigen. Doch Gael sagte nicht viel, und wer konnte es dem kleinen Jungen auch verdenken. Cari hoffte, dass die Zeit seine Düsternis vertreiben würde und er den Verlust seiner Eltern überwinden konnte, und bis dahin versuchte sie, geduldig mit ihm zu sein. Vor ein paar Tagen war es ihr das erste Mal gelungen, ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken. Sie hatte an einem Bachlauf einen grünen Frosch entdeckt, dessen Rücken mit blauen Punkten gesprenkelt war. Sie hatte Gael zu sich gerufen und ihm den Frosch gezeigt, und als sie sah, wie Neugier in seine Miene schlich, begann sie sich eine Geschichte darüber auszudenken, wie der Frosch zu seinen Punkten gekommen war und welch zauberhaftes Wesen er doch war. Sie hatte erzählt und erzählt, bis ihr schließlich die Ideen ausgingen, und stellte ihm dann die Frage, ob er auch schon mal so ein besonderes Tier entdeckt habe. Sie hatte gehofft, dass sie ein kleines Gespräch beginnen konnten – doch Gael hatte sie nur erschrocken angesehen, so als würde ihm bewusst werden, dass er für einen Moment seine Trauer vergessen hatte und er sich dafür schämen müsse. Dann hatte er schnell mit dem Kopf geschüttelt, war mit einem Schulterzucken aufgestanden und hatte Cari mit ihrem Zauberfrosch alleine gelassen. Es war ein deprimierender Moment gewesen. Erst als sie später darüber nachdachte, ergab Gaels Reaktion für sie einen Sinn. Sie hatte sich dann vorgenommen, mit Selva mal darüber zu sprechen – und bis jetzt keine Gelegenheit dazu gefunden.
Cari kam wieder im Hier und Jetzt an. Sie sah zu ihrer Mutter, um ihre Stimmung abzuschätzen. Sie wirkte entspannt, das kleine Scharmützel eben schien keinen weiteren Schaden angerichtet zu haben. Gael saß mit Danneel und Jovan ein Stück von ihnen entfernt und hatte die Augen geschlossen. Vielleicht schlief er. Einen besseren Moment, beschloss Cari, würde sie so schnell nicht finden.
Doch gerade, als sie aufstehen und zu Selva gehen wollte, sah sie im Augenwinkel, wie Konnjar mit den Händen über sein Gesicht fuhr und kurz darauf aufsprang.
»Hoch mit euch!«, rief er ihnen allen zu. »Los! Es ist noch ein weiter Weg bis nach Jurbrand.«
[...]
Du willst wissen, wie es weitergeht? Schnapp dir das Buch!
Noch nicht ganz überzeugt? Schau mal in Angos' Bogen rein!