Zerota,
im ersten Jahr des vierten Zeitalters, das mit der Verabschiedung des Kronenediktes von Eperia und dem Zusammenbruch des Vereinigten Königreiches von Litona seinen Anfang nahm.
***
»Verdammt, Frances, wo warst du denn die ganze Zeit?«, rief Edvard, als er endlich den feuerroten Haarschopf erspähte, nach dem er seit einer gefühlten Ewigkeit Ausschau hielt. Missmutig blieb er stehen und wartete, bis sein Freund zu ihm kam. Frances antwortete ihm mit einem breiten Grinsen, das Edvard quer über den halben Hof erkennen konnte. Er kannte es nur zu gut; es war das Grinsen, das Frances‘ Eroberungsgeschichten begleitete. Und obwohl diese Geschichten stets allseits für Heiterkeit sorgten, hatten sie schon das ein oder andere gebrochene Herz und so manchen vor Wut schäumenden Vater zurückgelassen.
Doch Edvard stand nicht der Sinn nach Weibergeschichten. »Das kannst du dir sparen«, murrte er vorsorglich, als Frances endlich heran war. »Ich renne dir schon den halben Tag hinterher.«
»Ach komm, was hat dir denn die Laune verdorben?«, lachte sein Freund. Übermütig rempelte er Edvard an. Doch seine unverhohlene Hochstimmung machte es für Edvard nur noch schlimmer.
»Du, verdammt!«, blaffte er. »Ich bin doch nicht dein Kindermädchen!«
»Und mir war nicht bewusst, dass ich mich jedes Mal abmelden muss, wenn ich mein Zimmer verlasse«, entgegnete Frances ruhig. »Entspann dich, Edvard.«
»Ja, sicher!« Edvard wurde zynisch. »Bei den Göttern, ich habe schon genug um die Ohren!«
»Das ist mir nicht entgangen, lieber Freund. Mittlerweile bevorzugst du ja eher deinen Schreibtisch als Gesellschaft. Ich mache mich nun mal nicht so gut als Wandteppich.«
Edvard erwiderte den Vorwurf mit eisigem Schweigen, und so überquerten sie ohne ein weiteres Wort den Innenhof. Erst als ihn Edvard in Richtung der großen Halle führte, gab Frances endlich nach.
»Warum hast du mich gesucht? Und wohin gehen wir?«
»Du hast mir noch nicht geantwortet. Wo warst du?«, entgegnete Edvard. Er konnte sehen, wie es in Frances zu brodeln begann. Sein Freund hasste es, wenn er so kühl zu ihm war.
»Blumen pflücken«, presste Frances missmutig zwischen den Zähnen hervor.
»Blumen pflücken? Hinter dem Stall?«
»Oh ja. Die hübschesten Blumen wachsen an den Stellen, an denen man es am wenigsten erwartet, weißt du.«
»Und wo sind deine Blumen? Ich sehe keine.«
»Da war nur eine, um ehrlich zu sein. Ich habe sie stehen lassen. Gewissermaßen.« Frances schielte zu Edvard herüber. Lange regte sich nichts in seinem Gesicht, doch dann zuckten die Mundwinkel nach oben.
»Ein Gänseblümchen?«, fragte er.
»Nein, eher eine … Butterblume. Ja, ich denke, eine Butterblume.«
»Eine Butterblume? Was wird da nur die Rose sagen, der du noch vor ein paar Tagen ewige Treue geschworen hast?«
»Oh die Liebe, Edvard!«, jaulte Frances auf. »Die Liebe lässt uns schwärmen und träumen und hinterlässt doch nichts als einen fahlen Nachgeschmack, nicht wahr?« Er machte eine höfische Verbeugung. »Und dabei sind es doch die kleinen und alltäglichen Dinge, die uns so viel Freude bereiten. Wer will schon eine Rose, an deren Dornen man sich die Finger blutig sticht, wenn sich vor deinen Augen eine ganze Wiese voll fröhlicher, bunter Wildblumen ausbreitet?«
»Der Schmetterling, schätze ich. Denn die Rose riecht viel besser.«
»Dann nenne mich eine Kuh, mein Freund, denn ich grase lieber eine ganze Weide ab, anstatt ein Leben lang der Unerreichbaren nachzutrauern.«
»Nicht so laut, Mann«, wies ihn Edvard zurecht. Sie hatten die große Halle erreicht, in der sich ein Großteil der wichtigsten Männer des Landes eingefunden hatte. Nicht wenige warfen ihnen geringschätzige Blicke zu, denn Frances‘ lautstarke Schwärmerei für Blumen passte nicht zu dem ernsten Anlass, der sie hier hatte zusammenkommen lassen.
Frances und er waren zwar Ritter, doch Teil dieser Runde waren sie nur, weil sie Edvards Vater vertreten sollten. Genau genommen war sogar nur Edvard geladen, doch Frances und er waren seit frühester Kindheit wie Brüder, und so war es wie selbstverständlich, dass Frances ihn begleitete.
»Ein Rindvieh, ja, das bist du«, raunte er Frances zu. »Und ich bin der Depp, der hinter dir herrennt und aufpassen muss, nicht in deine Fladen hineinzutreten. Wusstest du, dass Kühe die Stellen mit den prächtigsten Blumen meiden?«
»Und warum sollten sie das tun?«, fragte ihn Frances ungläubig. Er dachte anscheinend nicht einmal im Traum daran, seine Stimme zu senken.
»Weil sie wissen, dass die Blumen vor allem dort wachsen, wo im Jahr zuvor ein anderes Rindvieh hingeschissen hat.«
Frances brach in schallendes Gelächter aus. »Und ich dachte schon, ich hätte dich an all deine Pflichten und Aufgaben verloren!«
Man hatte die große Halle umgeräumt, in der sonst gegessen, getrunken und geschlafen wurde. Die Tische waren an den Rand geschoben worden, während man die Bänke so aufgestellt hatte, dass sie von links und rechts schräg zu dem erhöhten Podest hin standen, auf dem König Aldan mit seinen Beratern Platz nehmen würde. Edvard und Frances suchten sich einen Platz in den hinteren Reihen. Die vorderen waren ohnehin den engsten Vertrauten und denen, die genau das gerne wären, vorbehalten, und zumindest die letzteren hatten sich ihre Plätze schon längst gesichert.
»Was meine Pflichten angeht, so wird sich das erledigen, wenn sie meinen Vater wieder freigelassen haben«, griff Edvard den Vorwurf wieder auf, mit dem ihn sein Freund nicht zu Unrecht konfrontiert hatte. Sein Vater war Jovan Thornholm, ein bedeutender und vermögender Ritter mit weitreichenden Ländereien im Süden, und Edvard war an seiner statt Aldans Einladung gefolgt. Jovan befand sich noch in litonaischer Gefangenschaft. Seine Freilassung stand jedoch unmittelbar bevor.
Seit Edvard seine Aufgaben übernommen hatte, war nicht viel Zeit für die schönen Dinge des Lebens geblieben. Das war ihm bewusst. Und er wusste auch, dass es Frances nicht so gemeint hatte. Doch vielleicht war es der richtige Zeitpunkt, um darüber zu sprechen. »Ich weiß im Moment nicht, wo oben und wo unten ist. Jeder scheint etwas von mir zu wollen. Es ist, als wäre im Krieg alles liegengeblieben. Also, wenn mein Vater –«
»Falls«, murmelte Frances.
»Bitte?«
»Nichts«, entgegnete sein Freund, und sprach schnell weiter. »Ist schon in Ordnung, Edvard. Ich beneide dich gerade nicht um den Krempel, mit dem du dich rumschlagen musst.«
»Was hast du gesagt?« Edvard ließ nicht locker. Frances seufzte.
»Falls. Falls sie deinen Vater freilassen.«
Edvard sah seinen Freund eindringlich an. »Sie werden ihn freilassen. Die Verträge sind unterzeichnet. Warum zweifelst du daran?«
»Weil das alles seltsam ist, Edvard. Braut und Bräutigam und eitel Sonnenschein. Alle haben sich lieb, obwohl sie sich gestern noch die Köpfe eingeschlagen haben. Und plötzlich reist die Braut ab, ohne Erklärung. Was meinst du, was als nächstes passieren wird?«
»Dafür gibt es bestimmt eine einfache Erklärung. Der Krieg ist vorbei.«
»Ja, natürlich ist er vorbei. Aber wie lange noch? Und solange bleibe ich lieber ein bisschen pessimistisch und grase jede Wiese ab, an der ich vorbeikomme. Bei Joselia, die Weiber werden im Krieg hässlich genug.«
Edvard verstand, was Frances sagen wollte. Der Frieden war noch keine zwei Monate alt und er sollte mit der Hochzeit der jüngeren der beiden litonaischen Prinzessinnen und dem jüngsten Sohne eines bedeutenden zerotischen Herren besiegelt werden. Aus diesem Grund hatte König Aldan Braut und Bräutigam zu einem vorhochzeitlichen Treffen eingeladen. Als Treffpunkt war Burg Sommerhain bestimmt worden, die nur einen straffen Tagesritt von der litonaischen Grenze entfernt lag. Es waren vergnügliche, frühsommerliche Tage gewesen. Die Hoffnung auf einen lang anhaltenden Frieden erblühte zusammen mit den ersten zarten Blumen – echten Blumen, wohlgemerkt – auf den vielen Gräbern, die niemanden vergessen ließen, mit wie viel Blut die neue Freundschaft bezahlt worden war.
Doch vor nicht ganz zwei Wochen war die litonaische Prinzessin ohne Vorankündigung und Erklärung abgereist. Seitdem war es seltsam still. Ganz Zerota, so schien es, hielt den Atem an und wartete auf den Sturm – oder zumindest auf eine Nachricht aus Litona. König Aldan hatte umgehend die wichtigsten Männer seines Reiches zusammengerufen und heute war der Tag, an dem auch der letzte eingetroffen war.
»Gibt es eigentlich etwas Neues von dem kleinen Jungen?«, wechselte Frances das Thema.
»Du meinst Robyn?«
»Ja.«
»Nein. Aldan hat wohl eine Untersuchung angeordnet, aber mehr habe ich auch nicht gehört.«
»Und was ist mit dem Kindermädchen?«
»Kerker.«
Frances schüttelte verständnislos den Kopf.
Am Tag nach der Abreise des litonaischen Hofstaates hatte man in einem nahen Waldsee die Leiche von Robyn gefunden, dem einzigen Sohn von Dorian Herthweyn, dem Bruder Königin Raenas.
Robyn war ein aufgeweckter Knabe von gerade einmal sieben Jahren, der nie hatte still sitzen können. Er war der Sonnenschein aller Küchenmägde, der Stolz seiner Eltern und der Fluch eines jeden Kindermädchens, denn noch lieber als die Burg hatte Robyn die Welt um sie herum erkundet. Auch die Tage während des litonaischen Besuches hatte er mit seinem Kindermädchen überwiegend im Freien verbracht, denn Burg Sommerhain trug ihren Namen nicht ohne Grund.
Die Festung lag auf einem Hügel, um den sich ein je nach Tageszeit silber, golden oder rosa glänzendes Flussband legte. Das Tal war eingebettet in ein buntes Meer von verschiedenen Laub- und Nadelbäumen, die hier und da ein wenig Luft und Licht für kleine, mit Blumen in allen Farben übersäte Wiesen ließen. Jeder einzelne Baum, jede einzelne Blume, wahrscheinlich sogar jeder einzelne kümmerliche Grashalm, der irgendwo zwischen einem Stein und einem alten Tannenzapfen aus dem Boden kroch, konnte Zeugnis von der Wehrhaftigkeit des strategisch wichtig gelegenen Bollwerks ablegen. Denn es war das Blut unzähliger Schlachten, das den Boden hier so fruchtbar machte. An manchen Tagen lag ein schwerer, grauer Nebel über dem Tal, sodass es den Anschein hatte, die Geister der Toten würden ihre Schlachten erneut austragen. Es war ein Ort der Gegensätze, von Leben und von Tod, und mit Robyns Tod hatte er ein neues tragisches Kapitel seiner Geschichte geschrieben.
Sein Kindermädchen war in diesen Tagen die jüngste Tochter eines unbedeutenden Landritters. Ihr Name war Blanche und sie hatte sich mit Robyn angefreundet, kaum dass sie in den Dienst der Herthweyns getreten war. Wie kein Kindermädchen vor ihr hatte sie es verstanden, den Jungen zu bändigen. Umso überraschter reagierte der Hof, als sie eines Abends kreidebleich berichtete, dass ihr der Kleine beim Versteckspiel im Wald fortgelaufen sei. Am darauffolgenden Tag war die litonaische Prinzessin abgereist.
»Der Kerker ist kein Ort für eine junge Frau«, meine Frances.
»Nein, und erst recht nicht der Kerker von Sommerhain. Wo auch immer du Blumen suchst, dort wirst du sicher keine finden«, antwortete Edvard.
»Nein, sicher nicht. Und ich werde auch bestimmt nicht dort danach suchen«, stimmte ihm Frances zu.
[…]
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