Eines Abends schwimmt der Wal Hoffnung an die Wasseroberfläche.
Ein Freund hat ihm erzählt, dass es heute keine Wolken am Himmel gibt und man die Sterne sehen kann. Manchmal, wenn kein Wind bläst, spiegeln sich die Sterne auch im Meer. Das ist ein besonders schöner Anblick, denn dann besteht die ganze Welt nur aus glitzernden und funkelnden Pünktchen.
Heute bläst kein Wind, und das möchte sich der Wal Hoffnung nicht entgehen lassen.
Er springt vor Freude aus dem Wasser und lässt die Pünktchen in den Wellen lustig tanzen. Gerade dreht er sich auf den Rücken, als er eine Sternschnuppe sieht. Die Sternschnuppe zieht einen langen, hellen Schweif hinter sich her. Und dann fällt sie ins Wasser.
„Das ist gar nicht weit weg von hier“, denkt sich der Wal Hoffnung und macht sich auf den Weg.
Als er den Ort erreicht, an dem die Sternschnuppe ins Meer gefallen sein muss, ist er sehr überrascht. Denn es ist gar keine Sternschnuppe, die da auf dem Wasser treibt, sondern ein kleines Mädchen mit weißen Haaren.
„Wie heißt du?“, fragt sie der Wal Hoffnung, „Und was machst du hier?“
„Mein Name ist Ida“, antwortet das Mädchen, „und ich komme von sehr weit her.“
„Hast du dir wehgetan, als du heruntergefallen bist?“, fragt der Wal Hoffnung besorgt.
„Nein, das Wasser hat mich aufgefangen. Lebst du hier?“, möchte Ida wissen.
„Ja, hier und überall“, sagt der Wal Hoffnung und zeigt mit seiner regenbogenfarbenen Schwanzflosse in alle vier Himmelsrichtungen.
„Dann bist du genau der, den ich gesucht habe“, freut sich Ida. „Ich möchte gerne die schönsten Orte im Meer kennenlernen, damit ich zuhause davon erzählen kann. Möchtest du sie mir zeigen?“
Das möchte der Wal Hoffnung sehr gerne, und so hält sich Ida an ihm fest und gemeinsam tauchen sie in die Tiefen des Meeres.
Sie schwimmen die ganze Nacht hindurch.
Als am Morgen die ersten Sonnenstrahlen das blaue Wasser erhellen, sieht Ida, wo sie der Wal Hoffnung hingebracht hat. Vor ihnen liegt ein altes Segelschiff, das im Sand auf dem Grund des Meeres schläft. Der Wal Hoffnung taucht vorsichtig durch ein großes Loch in der Schiffswand hindurch. Ida muss aufpassen, dass sie sich nicht den Kopf dabei stößt.
Im Inneren des Schiffswracks bekommt Ida große Augen.
„Das glitzert aber toll“, ruft sie begeistert. „So viele bunte Steine und ganze Kisten voll Münzen! Wie schön!“
Der Wal Hoffnung lächelt. Er freut sich, dass Ida der Schatz gefällt, den er vor langer Zeit hier gefunden hat. Schon oft hat er sich gefragt, wie er hierher gekommen ist. Ob er auch vom Himmel gefallen ist, so wie Ida?
„Möchtest du noch mehr sehen?“, fragt er das Mädchen, als sie sich genug umgeschaut hat.
„Ja, das möchte ich sehr gerne. Ich habe noch Zeit.“
Und so hält sich Ida wieder am Wal Hoffnung fest und gemeinsam setzen sie ihre Reise durch das Meer fort.
Dieses Mal schwimmen sie etwas länger. Ganze drei Tage sind sie unterwegs. Zwischendurch muss der Wal Hoffnung immer mal auftauchen, um Luft zu holen. Wenn er dann aus dem Wasser springt und mit seiner Regenbogenflosse auf das Wasser klatscht, muss Ida vor Freude laut lachen.
Danach tauchen sie wieder ab und schwimmen so dicht über den Meeresgrund, dass ihnen das Seegras den Bauch kitzelt. Manchmal treffen sie andere Bewohner des Meeres: Delfine, die viel lachen und noch mehr reden. Oder Krebse, die lustig seitwärts laufen und dabei so laut mit ihren Scheren klappern, dass man kaum versteht, was sie sagen. Oder Fischschwärme, die sich für Ida in immer neuen Figuren anordnen und mit Hunderten Mündern gleichzeitig sprechen. Ida kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Und sie alle wissen von tollen Orten und spannenden Geschichten zu berichten, die sie kennen und erlebt haben. Bald schon ahnt Ida, dass es mehr zu entdecken gibt, als sie sich vorstellen kann.
Der Wal Hoffnung bringt sie an einen Ort, an dem es ganz dunkel ist.
„Ich sehe gar nichts“, wundert sich Ida. „Wo sind wir?“
„Es ist dunkel, weil es Nacht ist. Warte, bis die Sonne aufgeht“, lächelt der Wal Hoffnung.
Während sie warten, schließt Ida die Augen und schläft ein. Sie träumt von den ganzen Wundern, die sie gesehen hat, und auch von denen, die sie noch nicht gesehen hat. Es ist ein schöner Traum. Und als der Wal Hoffnung sie dann vorsichtig weckt, glaubt sie, noch immer zu träumen.
Denn vor ihr erleuchten die Strahlen der Morgensonne eine ganz neue Welt: Der Meeresboden ist bedeckt mit Blumen, Gräsern und Steinen in allen möglichen Farben und Formen. Die Pflanzen wiegen sich alle sanft im Wasser. Hier und da sieht Ida kleine Blubberbläschen aufsteigen. Und immer wieder kommen ebenso bunte und lustig aussehende Meeresbewohner vorbeigeschwommen und winken fröhlich den Besuchern zu. Ida kann sich gar nicht sattsehen.
„Wie schön“, sagt sie mit leuchtenden Augen. „Wer hat das gemacht?“
„Das war schon immer so“, antwortet ihr der Wal Hoffnung. „Es gibt viele Orte wie diesen im Meer, aber hier finde ich es besonders schön. Nirgendwo sonst gibt es so viele Farben und unterschiedliche Freunde zu treffen.“
„Hat der Ort einen Namen?“, fragt Ida.
„Nein, ich weiß es nicht. Wir nennen ihn immer nur das Große Riff“, erklärt ihr der Wal Hoffnung. „Und schau: Mit meiner Regenbogenflosse passe ich hier ganz wunderbar her, findest du nicht?“
„Oh ja, das ist wahr“, stimmt ihm Ida zu. „So hast du immer ein Stück von hier bei dir. Ich wünschte, das hätte ich auch.“
„Möchtest du hier bleiben?“, fragt sie der Wal Hoffnung.
Ida schüttelt zur Antwort mit dem Kopf. „Ich würde gerne hier bleiben. Aber bestimmt gibt es noch so viel mehr zu sehen. Und bald muss ich ja auch schon zurück.“
„Dann habe ich noch eine Idee, was ich dir zeigen möchte“, sagt der Wal Hoffnung. „Halte dich gut fest!“
Nachdem Ida nun schon einige Male den Sonnenaufgang im Meer erlebt hat, möchte sie ihn auch mal unter freiem Himmel sehen. Deswegen macht sich der Wal Hoffnung am nächsten Morgen direkt auf den Weg zur Wasseroberfläche. Gemeinsam beobachten sie, wie die orangefarbene Sonnenscheibe aus dem Meer auftaucht und das Schwarz vom Himmel vertreibt, bis alles erst in Lila, dann in Rot und schließlich in wunderbarem Blau erstrahlt. Dabei schweigen sie, denn sie beide fühlen sich wohl.
Als die Sonne am Himmel steht, schwimmen sie weiter. Doch der Wal Hoffnung beschließt, nicht wieder so tief abzutauchen. Er weiß, dass nicht nur der Sonnenaufgang sehr schön ist, sondern auch der Sonnenuntergang. Und den möchte er Ida auch zeigen. Bis es soweit ist, spielen sie den ganzen Tag über immer wieder das Planschspiel: Der Wal Hoffnung springt aus dem Wasser, breitet für einen kurzen Moment die Flossen aus wie ein Vogel, und dann planschen sie mit großem Getöse zurück ins Wasser. Zwischendurch, um sich auszuruhen, lassen sie sich auch von der Strömung treiben. Ida streichelt dabei mit den Fingerspitzen über die Wasseroberfläche und bewundert die kleinen kristallklaren Wellen, die sie damit verursacht. Sie findet das Meer toll und ist sehr gespannt, wo sie ihr neuer Freund noch hinbringen wird.
Als der Tag zur Neige geht, färbt sich der Himmel wieder Rot. Ida ist überrascht. Sie hatte gedacht, dass das Licht der Sonnenscheibe einfach dunkel werden würde, weil die Nacht ja auch dunkel ist. Doch stattdessen geht der Tag mit einem wunderschönen Farbenspiel zu Ende. Die Sonne zaubert goldene und orangene und gelbe und rosarote Schatten auf die Wolken. Alles funkelt und schimmert so wie die Edelsteine in der Schatzkiste, die sie am ersten Tag besucht haben.
Fast schon ist sie ein bisschen traurig, als die Nacht hereinbricht.
„Wir haben noch ein weites Stück Weg vor uns“, tröstet sie der Wal Hoffnung. „Am besten schläfst du jetzt und ruhst dich aus. Im Traum siehst du vielleicht all die schönen Farben noch einmal.“
„Das ist eine gute Idee“, findet Ida. „Ich freue mich auf morgen.“
„Ich mich auch“, sagt der Wal Hoffnung und wünscht ihr eine gute Nacht.
Doch am nächsten Tag gibt es keinen Sonnenaufgang. Stattdessen hängen große, schwere, graue Wolken am Himmel.
„Was ist das?“, fragt Ida. „Das sieht gefährlich aus. Ich habe Angst.“
„Du musst keine Angst haben. Das sind Wolken. Und wenn Wolken aufziehen, dann wird es lustig. Halte dich gut fest!“, ruft der Wal Hoffnung. Und kaum hat sich seine Freundin an ihm festgekrallt, springen und toben sie durch die Wellen, die sich bis zum Himmel auftürmen. Der Wind heult laut auf, doch ihr Lachen ist lauter, und vor Freude vergisst Ida, dass sie Angst hatte.
Am nächsten Tag erreichen sie dann den Ort, den der Wal Hoffnung Ida zeigen wollte. Und wieder glaubt Ida, in einer neuen Welt zu sein.
Am Meeresboden liegen Säulen und Statuen aus weißem Stein. Manche stehen auch noch und tragen andere Säulen. Ein großes Labyrinth breitet sich vor ihnen aus. Die Statuen zeigen Wesen, die sie noch nie zuvor gesehen haben. Manche sehen Ida ganz ähnlich. Hier und da finden der Wal Hoffnung und seine Freundin Schlupflöcher, in die sie hineinschwimmen können. Dort sehen sie noch mehr wundersame Dinge: An den Wänden türmen sich Regale auf, in denen seltsame Rollen liegen. Es gibt Tische mit großen und kleinen Geräten, die merkwürdige Sachen machen, wenn man sie anstupst. Sie finden Schreine, aus denen sie die Gesichter der unterschiedlichsten Wesen anschauen.
„Das ist magisch“, staunt Ida. „Was ist das?“
„Auch das weiß ich nicht“, flüstert der Wal Hoffnung, denn er möchte die Stille nicht mit seiner lauten Stimme stören. „Aber unter den Fischen und Walen erzählt man sich, dass hier eines Tages vor langer Zeit ein Berg Feuer spuckte. Das Feuer kam sogar aus dem Meeresboden. Alle hatten große Angst und versteckten sich. Am nächsten Tag waren diese Dinge wie aus dem Nichts aufgetaucht.“
„Dann ist es wirklich magisch“, stellt Ida fest. Sie flüstert nun auch. „Und wunderschön. Danke, dass du dieses Geheimnis mit mir geteilt hast.“
„Was wirst du jetzt tun?“, fragt sie der Wal Hoffnung.
„Jetzt ist es Zeit, Abschied zu nehmen“, antwortet Ida traurig.
„Das ist schade. Aber ich freue mich, dass wir uns begegnet sind“, meint der Wal Hoffnung. „Los, komm! Ich bringe dich zurück. Halte dich an mir fest!“
Und ein letztes Mal schwimmen sie gemeinsam durch das Meer. Als sie an der Wasseroberfläche ankommen, geht die Sonne gerade unter.
„Sieh nur, es wird Nacht“, sagt der Wal Hoffnung. „Bald funkeln wieder die Sterne am Himmel.“
„Ja, und sie zeigen mir den Weg nach Hause“, freut sich Ida. „Ich werde viel zu erzählen haben. Von den Schätzen und dem Riff, von dem magischen Labyrinth aus weißem Stein, von den vielen Freunden, die wir getroffen haben, den Geschichten, die sie erzählt haben. Von den mächtigen Wellen und dem heulenden Wind, dem Sonnenaufgang und dem Sonnenuntergang und den Farben, in denen der Himmel erstrahlt. Von all dem will ich zuhause erzählen. Und auch von dem Gras, das uns den Bauch gekitzelt hat, den Bergen, die unter Wasser Feuer spucken, den bunten Blumen und Steinen, die wir gesehen haben.“ Dann zeigt Ida auf die Regenbogenflosse. „Und vor allem werde ich von dir erzählen, von dir und deiner bunten Flosse, mit der du immer ein Stück von deiner Heimat bei dir hast.“
Der Wal Hoffnung freut sich sehr über das, was Ida zu ihm sagt. Liebevoll streichelt er mit seiner Regenbogenflosse über Idas Gesicht. Ida muss kichern, als sich plötzlich eine Strähne in ihrem Haar verändert. Gerade eben war sie noch weiß, und nun schimmert sie ebenfalls in allen Farben des Regenbogens.
„Jetzt hast du auch etwas, das dich an hier erinnern wird“, lacht der Wal Hoffnung. Ida nickt eifrig.
„Danke für das Geschenk. Und nun muss ich leider los“, sagt sie, während sie zu den Sternen schaut.
„Lebe wohl, Ida. Aber eine Frage habe ich noch. Was hat dir von all den Wundern am besten gefallen?“, fragt sie der Wal Hoffnung.
Das Mädchen mit den weißen Haaren und der regenbogenfarbenen Strähne überlegt einen Augenblick. Dann antwortet sie: „Gefallen hat mir alles. Aber am meisten die endlose Weite, als wir von einem Geheimnis zum nächsten geschwommen sind. So viel Freiheit, so viel zu entdecken. Es ist eine tolle Welt. Das hat mir am meisten gefallen, denn es hat mich auch ein bisschen an mein Zuhause erinnert.“
Und damit drücken sich der Wal Hoffnung und Ida ein letztes Mal, bevor alle, die in diesem Moment zum Himmel schauen, eine kleine Sternschnuppe über den Himmel ziehen sehen.