Die Vision (Lesungsabenteuer)

Diese Geschichte entstand aus Ideen des Publikums bei der Lesung im KaffeeSatz Chemnitz am 29. November 2024.


Eine Überlieferung zu den Überlegungen einer weisen Frau, die ihr Leben der Aufgabe widmete, Menschen in ihrem Kummer und ihrer Not beizustehen, und die sich fragte, welche Rolle die Götter dabei spielten.

„Suche die Fledermaus und sieh das Göttliche.“ [Spruch über dem Tor des Gasthauses.]

Die Insel Selena ist ein magischer Ort. Sie liegt inmitten eines großen Sees, der von einem Wasserfall gespeist wird und sich seinerseits in wilden Kaskaden in ein tiefergelegenes Tal ergießt, das sich unter dem Plateau des Sees ausbreitet und am Horizont die Teklanische See empfängt. Die Kulisse mit dem von Weiden und bunten Auwiesen gesäumten Ufer, den kleinen Buchten marmorfarbenen Sandes, der mächtigen Felsformation mit dem rauschenden Wasserfall und der grünen, fruchtbaren Ebene entlang des Auslaufs ist von atemberaubender Schönheit, von natürlicher, ursprünglicher Unschuld. Und so war auch der kleine Tempel auf der Insel in stilvoller Zurückhaltung errichtet worden, auf dass er sich unaufdringlich in die Szenerie einfügen konnte und dabei doch die Würde und Ehrerbietung ausstrahlte, die diesem Ort angemessen waren.
Dieser Tempel war die Heimat einer kleinen Schwesternschaft von acht Priesterinnen. Welcher Ort, wenn nicht diese Insel, war dazu geeignet, mit den Göttern in Verbindung zu treten? Pilger kamen aus allen Himmelsrichtungen, um eine Frage zu stellen und Rat für ihre Sorgen und Ängste zu erbitten. Sie wurden mit einem kleinen Boot auf die Insel gebracht; auf diese Weise stellte man sicher, dass sich nicht mehr Menschen zum Tempel begaben, als die Priesterinnen empfangen konnten. Am Ufer des Sees gab es ein kleines Lager, wo die Reisenden warteten – mitunter tagelang. Das war für manche eine schwerere Prüfung als die weite Reise selbst, doch wer sich daneben benahm, wurde weggeschickt, und das war ein viel stärkerer Anreiz, als man glauben mochte.
Die Insel ragte wie die Spitze eines Berges aus dem See, ein Fels, der nicht nur dem Tempel Platz bot, sondern auch einem kleinen Wald und einem versteckten Strand. Die Priesterinnen teilten sich dieses Zuhause mit einer Schar Fledermäuse, die nicht nur in den Spalten und Höhlen des zerklüfteten Felsens lebten, sondern mit der Zeit auch die dunklen Winkel und Ecken des Tempels für sich entdeckt hatten. Erklomm man den Gipfel des Inselberges, konnte man von hier aus nicht nur das wunderschöne Panorama bewundern, sondern auch das kleine Lager der Pilger sehen. An eben dieser Stelle stand eines Abends die Älteste der acht Priesterinnen und ließ ihren Blick in der Ferne ruhen. Der stürmische Wind brachte ihre Haare in dieselbe Unordnung, in der sich ihre Gedanken befanden, und nur halbherzig lauschte sie den Worten einer jüngeren Priesterin, die ihr von dem berichtete, was sie als ihre neueste Vision betrachten wollte. Sie sprach von einem Wesen mit Zöpfen und kleinen Ohren, das aber kein Mensch war, und das eine Vorliebe für Brot und Essig hatte. Ein König erhob jedoch hohe Abgaben, während eine Dürreperiode eine Hungersnot auslöste, sodass das Wesen seine Leibspeise nicht bekommen konnte – was für ein Sinn mochte darin wohl liegen? Drohten dem Land Armut und Hunger? Gab es unter den Menschen Wesen, die sie verdrängen wollten? Die Älteste seufzte. Die Gedanken der Jüngeren waren so beliebig wie nutzlos und ihre Vision kaum mehr als ein aufgeblasenes Konstrukt, dem sie krampfhaft einen tieferen Sinn abringen wollte. Die Älteste war an diesem Tag nicht in der Stimmung, der Jüngeren den feinen Unterschied zwischen der Anmutung einer göttlichen Eingebung und dem wirren Traum eines einfachen Geistes näherbringen zu wollen. Es würde wohl auch nichts bringen, wie all die vorherigen vergeblichen Versuche gezeigt hatten. Irgendwann merkte die Jüngere schließlich, dass bei der Ältesten an diesem Tag nichts für sie zu holen war, und sie verabschiedete sich ehrerbietig.
Ohne ihre Worte im Ohr konnte die Älteste endlich in sich hinein lauschen und sich ihren eigenen Gedanken hingeben. Sie dachte über die letzte Vision nach, die sie selbst empfangen hatte, an die Worte, die sie dem Pilger mitgegeben hatte. Hatten sie ihm weitergeholfen, oder hatten sie für noch mehr Verwirrung gesorgt, wie so oft? War überhaupt irgendetwas, das sie in ihrem langen Dasein als Priesterin gesagt hatte, jemals jemandem von Nutzen gewesen? Sie hätte es gerne gewusst. Denn Visionen waren so eine Sache. Von klein auf hatte sie gelernt, das, was sie an inneren Bildern sah, solcherart in Worte zu hüllen, dass die Fragenden im Enträtseln der Antwort einen eigenen Sinn suchen mussten. Doch kamen diese Bilder und Gedanken wirklich von den Ewigen, oder hatte sie mittlerweile nur lange genug unter den Menschen und ihren Problemen gelebt, dass sich in ihrem Geist beim Hören der Frage von allein die passenden Worte und Ratschläge formten? Und hieße das nicht, dass sie vielleicht gar keine echte Seherin, dass ihr Leben eine Aneinanderreihung teuer bezahlter Lügen war? Dass es vielleicht gar keine Götter gab?
Ein kräftiger Windstoß traf die Älteste. Sie atmete tief ein, sah zum Horizont, nahm all das Schöne, Wunderbare wahr, das sich ihren Augen darbot. Die Zweifel ängstigten sie nicht. Zu lange waren sie schon Teil von ihr, zu oft hatte sie schon versucht, sie zu ergründen. Sie hatte sich selbst schon vor langer Zeit vergeben.
Ein weiterer Windstoß riss die schwere Wolkendecke auf, und ein Sonnenstrahl brach durch sie hindurch, um das Tal zu erleuchten. Es war ein Anblick, der einem Sterblichen Demut lehrte. War es ein Zeichen der Götter? Die Seherin lächelte. Ganz sicher nicht. Es war einfach nur ein wunderbares Bild, ein großartiger Augenblick auf die Herrlichkeit des Lebens und der Welt. Und sie erkannte nicht zum ersten Mal, dass die erhabene Schönheit der Natur viel besser dazu geeignet schien, einen unruhigen Geist zu befrieden und Sorgen zu vertreiben, als verschleierte Antworten auf schlecht gestellte Fragen es jemals vermocht hätten.
Der Wind trug die gedämpften Geräusche des Lagerplatzes der Pilger zu ihr. Der Tag neigte sich seinem Ende zu und die meisten von ihnen richteten sich auf eine weitere Nacht am Ufer ein. Die Älteste sah kleine Feuer aufflammen, Glühwürmchen gleich, und alles war friedlich. Wie viele vermochten wohl an diesem Ort für eine Weile die Sorgen vergessen, die sie hergebracht hatten? Wie viele von ihnen hofften wohl, dass sich ihr Los verbessern würde, nachdem das Boot sie zur Insel gebracht und eine Priesterin sie empfangen hatte? Ging es ihnen danach besser, als jetzt, in diesem Moment, als sie noch hofften und unter Gleichgesinnten weilten?
Und da brach sie über ihr herein: eine Vision, so klar und deutlich, wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Die Älteste sah die Pilger, wie sie miteinander das Leben feierten, wie sie hofften und lachten und einander halfen, sich Ratschläge erteilten und Mut zusprachen, während sie die Herrlichkeit der Welt bestaunten, wie sie es eben noch getan hatte. Nur saßen sie nicht mehr um kleine Lagerfeuer auf den Decken und Fellen, die ihr Nachtlager am Ufer waren, sondern auf hölzernen Bänken an reich gedeckten Tischen, in einem vor Leben pulsierenden Gasthaus inmitten der Insel.
Die Älteste hörte leisen Flügelschlag und kehrte aus ihrer Gedankenwelt zurück. Einige Fledermäuse, mit denen sich die Schwesterschaft die Insel teilte, waren aus ihrem felsigen Unterschlupf gekommen und machten sich in der Dämmerung auf die Suche nach Futter. Eine Fledermaus, so nachtschwärmend wie die Pilger aus ihrer Vision. Die Älteste lächelte. All die Zweifel, all die Verschleierungen des Möglichen hatten ihre Sinne geschärft, und sie entschied, dass diese Vision nicht im Ungefähren bleiben würde. Sie würde ein Gasthaus errichten, hier auf der Insel Selena, dessen Gäste mit einem Boot herübergebracht werden musste, und dessen Frieden heilig war, auf dass die Menschen hier zueinander und sie Hilfe fanden, während sie die Schönheit der Welt, die sich vor ihren Augen ausbreitete, bewundern konnten.
All das, da war sie sich sicher, war von größerem Nutzen als die Worte einer Priesterin, die selbst kaum wusste, wovon sie sprach.