Luanas Entscheidung

Calea,
im einhundertfünfundvierzigsten Jahr des vierten Zeitalters, wenige Wochen nachdem aquisteanische Truppen die von Rebellen besetzte Festung Athalea eroberten.

***

Nirheyda war ein Dorf im Südosten von Calea, gelegen in einer waldumsäumten Senke an einem See, dessen Wasser an schönen Tagen in hellem Blau strahlte. Er wurde von drei kleinen Bächen gespeist, die das kalte Wasser aus dem Anvaligebirge führten. An besonders klaren Tagen, vor allem im Winter, konnte man die Silhouette des mächtigen Gebirges am fernen Horizont erkennen. Umgeben war Nirheyda von Weizenfeldern, einem kleinen Weinhang und einigen Obstbäumen am Waldrand, während eine große Straße in sanften Biegungen von Norden her in die Dorfmitte führte und nach Süden in gleicher Weise wieder heraus führte. In der Dorfmitte gab es ein recht ansehnliches Wirtshaus mit einem eigenen Stall, um das sich einige kleine Gewerbe und sogar eine Schmiede angesiedelt hatten.
Nirheyda selbst war wohl nur ein namenloser Fleck auf der Landkarte, doch die Straße, die durch das Dorf hindurchführte, war eine immer häufiger genutzte Verbindung zwischen Aquistea, Calea und Litona. Jetzt, da die Kriege vorbei schienen und der Frieden den Handel wieder aufblühen ließ, kehrte auch das Leben auf die Straße zurück. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich auch in Nirheyda wieder neue Menschen niederlassen würden. Brenden Gortmar, der Lehnsherr des Dorfes, hatte große Pläne, was das anging. Er ließ bereits weiteres Bauland erschließen und den Wald roden, um Weide- und Ackerflächen zu gewinnen. Wenn es nach ihm ging, sollte Nirheyda zu einer Stadt mit Marktrecht werden – und so abwegig war dieser Plan nicht, denn wo es hier bereits eine Straße von Nord nach Süd gab, führte immerhin ein Trampelpfad von den entlegeneren Siedlungsgebieten im Schatten des Anvali im Osten geradewegs an Nirheyda vorbei nach Jurbrand, der Hauptstadt von Calea, im Westen. Der Südosten des Königreiches entbehrte derzeit noch einer gut ausgebauten Handelsroute nach Litona, und Gortmar gedachte nicht, den Reichtum, den eine Handelsstadt ihrem Lehnsherren einbringen konnte, einem anderen zu überlassen. In der letzten Zeit gab es in seinem Haus kaum noch ein anderes Thema; ständig empfing er irgendwelche Männer; Würdenträger, Händler, Handwerker – das Herrenhaus glich mitunter einem Bienenstock. Aber Luana war das recht – so wurde es wenigstens nicht langweilig.
Sie war eben unterwegs, um auf Geheiß der Herrin Besorgungen für das Abendessen zu machen. Am Abend zuvor war wieder eine Gruppe von Männern eingetroffen. Offenbar waren die Speisen und Getränke in ihrem Lager für diesen Besuch nicht gut genug.
Ganz Nirheyda schien in heller Aufregung zu sein. Offenbar hatte sich herumgesprochen, dass Gäste eingetroffen waren. Der kleine Platz in der Ortsmitte war ungewöhnlich voll und lebhaft. Männer wie Frauen standen in kleinen Gruppen beisammen und tauschten sich aus oder aber gingen von einer Gruppe zur nächsten und berichteten dort, was sie soeben von den anderen erfahren hatten. Luana spitzte die Ohren.
»Ja, ein Ritter soll es gewesen sein. Ein Graf sogar vielleicht, oder ein König! Zwei Dutzend Leibwächter hatte er, zwei Dutzend! Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen, als sie den Weg entlang kamen. Hier im Dorf, stellt euch das mal vor. Ein Graf oder ein König hier bei uns im Dorf, in Nirheyda, mit seinen Leibwächtern«, hörte sie einen Mann erzählen. Sie wusste, dass er im Wald arbeitete, doch seinen Namen kannte sie nicht. Er war ein Bär von einem Mann, groß und stämmig, mit dichtem, rotem Haar und dunklen Augenbrauen, unter denen noch dunklere Augen lagen, und Händen, die man wirklich als Bärenpranken bezeichnen konnte. Sie war sich beinahe sicher, dass er es mit bloßen Händen auch mit einem richtigen Bären aufnehmen könnte – und würde. Seine Aufregung aber mochte eher zu einem kleinen Jungen passen.
Luana konnte sich nicht so richtig entscheiden, ob sie sich ihrer brennenden Neugier hingeben und weiterlauschen oder doch nicht lieber die Augen verdrehen wollte, weil ihr das aufgeregte Geschwätz auf die Nerven zu gehen begann.
Sie hatte die Männer, wegen denen alle so in Aufruhr waren, bisher weder zu Gesicht bekommen noch wusste sie, woher sie kamen, wie viele es waren oder ob es Ritter, Grafen oder Könige waren. Sie vermutete jedoch, dass weder das eine noch das andere der Wirklichkeit entsprach. Sicherlich waren es einfach nur Reisende, die genug Geld oder Einfluss oder wenigstens einen Namen hatten, um nicht im Stroh der hiesigen Schenke schlafen zu müssen. Oder der alte Gortmar versprach sich einen anderen Vorteil von ihrer Anwesenheit – das konnte auch sein.
Je länger Luana den Gesprächen im Dorf lauschte, umso abenteuerlicher wurden die Behauptungen. Es schien, als würde jedes Grüppchen ein kleines Detail hinzudichten, um die anderen Geschichten zu übertrumpfen. Luana träumte gerne und mit Sicherheit brachte dieser Besuch etwas Farbe in das eintönige, graue Dorfleben, aber das war kein Grund, komplett den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ein König hier in Nirheyda – lächerlich!
Sie klemmte ihren Korb unter den Arm, raffte den langen Leinenrock und machte sich auf den Rückweg. Sie hatte alles, was sie besorgen sollte, und am Ende würde sie ihre Neugier sowieso am ehesten zuhause stillen können. Alles andere war nur Zeitverschwendung, zumal sie noch genügend andere Dinge zu erledigen hatte.
Die Hirtin, die Ewige Mutter, sah das anscheinend genauso, denn Audra schickte ihr einen göttlichen Windstoß, der sie in Richtung Herrenhaus schob und ein paar dunkle Strähnen aus dem schmalen Band zerrte, das ihre Haare weitestgehend im Zaum hielt. Einen kurzen Moment rang Luana mit sich selbst, ob sie den Korb absetzen und sich der verwilderten Strähnen annehmen sollte. Das Krabbeln und Flattern war lästig, vor allem weil es die Haare immer wieder in ihre Augen trieb und das ständige Blinzeln anstrengend war. Sie lief noch ein paar Schritte und traf dann die einzig richtige Entscheidung: Sie blieb stehen, stellte den Korb ab und richtete das Band neu aus. Dann ging sie weiter. Sie kam vielleicht ein Dutzend Schritte weit, bevor sich die nächste Strähne löste. Luana warf einen bösen Blick in Richtung des wolkenverhangenen Himmels, biss die Zähne zusammen, legte dann trotzig das Kinn auf die Brust und stapfte mit großen Schritten weiter. Vor ihrem inneren Augen sah sie die Ewige Mutter, die sich vor Lachen kaum auf dem Schemel halten konnte, weil Luana sich so von ihrem neckischen Streich nerven ließ.
Als Luana das Herrenhaus erreichte, war sie vom Kampf um ihre Frisur schwer gezeichnet. Dass sie nicht mehr auf Audras Spielchen eingegangen war, hatte die Ewige Mutter dazu veranlasst, nur noch umso mehr an ihren Haaren zu zerren. Das Ergebnis war eine für beide Seiten unbefriedigende Pattsituation: Luana hatte den stärkeren Willen bewiesen, indem sie den Wind und das, was er mit ihren Haaren machte, ignoriert hatte. Das war zumindest ihre Sicht der Dinge. Doch wie eine strahlende Siegerin sah sie mit ihrer völlig zerzausten, in alle vier Himmelsrichtungen abstehenden Mähne wohl nicht aus. Oh, sie würde es Audra heimzahlen. Sie würde ihren Ärger an der nächsten Person auslassen, die ihr über den Weg lief, und die Schuld dafür der Ewigen Mutter geben. Mal schauen, wie es dann noch um ihre gute Laune und die Lust, armen Kammermädchen Streiche zu spielen, stand.
Missmutig öffnete Luana die Tür.
»Nanu, wer kommt da zur Tür herein?«, hörte sie eine Stimme neben sich. Sie musste zu einem der Männer gehören, die letzte Nacht hier angekommen waren, denn ihr Klang war ihr fremd und der Akzent eindeutig nicht aus dieser Gegend. Sie war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass sie nicht alleine im Eingangsbereich war. Gemessen daran, dass diese Fremden sie in diesem Zustand sahen, musste sie wohl doch zähneknirschend Audra den Sieg zugestehen.
»Sagt, Mädchen: Seid Ihr Idira, die sich an Joselias Kamm vergriffen hat, oder Joselia, die sich mit Idiras Schwert die Haare schneiden wollte?« Der Mann lachte über seinen Scherz, mit dem er gleich zwei der Ewigen beleidigt hatte. Zwei andere Männer, die in der Nähe standen, fielen in sein Lachen mit ein. Allein ein vierter warf Luana nur einen kurzen, flüchtigen Blick zu, der kaum reichte, um Notiz von ihr zu nehmen. Dann machte er sich wieder daran, die Astlöcher in den Dielen zu seinen Füßen zu zählen. Luana stellte indessen sehr schnell fest, dass sie keinen der Männer leiden konnte.
»Und während Ihr sprecht wie ein Kind, lasst Ihr doch schon den kleinsten Funken Weisheit vermissen, edler Deb«, antwortete Luana dem gotteslästernden Scherzbold launisch. »Von etwas Anstand ganz zu schweigen.« Sie ahnte, dass sie sich damit ein ganzes Stück zu weit aus dem Fenster gelehnt und mindestens ein halbes Dutzend Regeln der Gastfreundschaft verletzt hatte. Aber sie hatte wenigstens ihren Schwur in Richtung Audra eingehalten. Und das schlechte Gewissen für das Beschimpfen der Gäste ihres Herren, auch wenn es sich noch nicht so recht bei ihr regen wollte, konnte sich die Ewige Mutter gleich mit ankreiden lassen.
»Ihr führt Eure Worte wie ein Schwert«, antwortete ihr der Scherzbold. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Bewunderung, Belustigung und sogar ein bisschen Reue mit.
»Und doch treffen ihre Worte nur bedingt ins Schwarze«, ergänzte derjenige, der zu Boden schaute. Ob er mit Zählen bereits fertig war und sich nun der Strohbinsen annehmen würde, die überall verstreut lagen? Luana spürte, wie Wut in ihr aufkeimte. »Denn zwar fehlt es dir an Anstand und mit Sicherheit auch an Debs Weisheit, mein Freund, doch keinesfalls an seiner Blindheit. Vor dir steht eine junge, hübsche Frau. Begegne ihr mit Respekt.« Luana sah verwirrt zwischen den beiden Männern hin und her. Der erste schien kurz zu überlegen, während der andere weder eine Miene verzog noch sich zu einem weiteren Blick in ihre Richtung hinreißen ließ.
»Du hast recht. Vergebt mir, mein Fräulein. Die lange Reise hat unsere Sitten rau werden –«
»Deine Sitten.«
»Hat meine Sitten rau werden lassen. So ist es wohl. Ich bitte um Entschuldigung.« Der Mann klang geläutert, und wenn er in seiner Miene irgendwo Hohn oder Spott versteckte, so konnte Luana keine Anzeichen dafür ausmachen.
»Und ich muss Euch wohl um Entschuldigung für meinen Anblick bitten«, antwortete sie. Sie war noch lange nicht besänftigt, aber sie hatte sich wieder im Griff. Am Ende war es doch ihre Frisur, über die sie sich ärgerte, nicht der Scherz. Unter anderen Umständen hätte sie ihn vielleicht sogar lustig gefunden. »Mein Name ist Luana. Mein Vater ist Everick Norhamp. Ich diene in diesem Haus als Kammermädchen für die Herrin.«
»Norhamp. Ich kenne diesen Namen.«
»Woher kommt Ihr?«, wollte Luana wissen.
»Wir kamen die Straße aus Richtung Norden.«
»Ihr seid über Rerusbruqq gereist?«
»Nein, wir wählten eine Route weiter im Osten. Eine, auf der man nicht so vielen Menschen begegnet.«
»Dann seid Ihr an Burg Grentstein vorbeigekommen?«
»Ja, das ist es! Norhamp. Grentstein. Ich erinnere mich. Das muss etwa zwei Wochen her sein. Wir erreichten die Burg bei Tagesanbruch, füllten unsere Vorräte auf und reisten sofort weiter. Daher dauerte es wohl einen Moment, den Namen zuzuordnen. Norhamp. Ja. Ein guter Mann.«
»Vor allem ein Mann mit zu vielen Töchtern. Entschuldigt mich nun bitte. Wendet Euch an die Dienstboten, wenn es Euch an etwas fehlt.« Mit diesen Worten ließ Luana die vier Männer alleine und verschwand – endlich – in den hinteren Bereich des Herrenhauses, in dem die Küche und ihr kleines Zimmer lagen. Sie konnte nach dieser ersten Begegnung nicht einordnen, wer die Männer waren, und ihre Neugier war trotz des Scharmützels ungebrochen. Doch es wurde höchste Zeit, dass sie ihr Haarband wieder seiner Bestimmung zuführte.

[…]

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